Klara Militsch. Èâàí Ñåðãååâè÷ Òóðãåíåâ I Im Fr;hjahr 1878 lebte zu Moskau in einem kleinen h;lzernen H;uschen in der Schabolowka-Vorstadt ein junger Mann von etwa f;nfundzwanzig Jahren, namens Jakow Aratow. Mit ihm wohnte seine Tante, Platonida Iwanowna, die Schwester seines Vaters, eine alte Jungfer von einigen und f;nfzig Jahren. Sie besorgte den Haushalt und verwaltete seine Kasse, wozu Aratow selbst nicht das geringste Talent besa;. Andere Verwandte hatte er nicht. Sein Vater, ein nicht sonderlich reicher Edelmann aus dem T-schen Gouvernement, war vor einigen Jahren mit ihm und mit Platonida Iwanowna, die er ;brigens immer Platoscha nannte, nach Moskau ;bersiedelt; auch der Neffe nannte sie nicht anders. Der alte Aratow hatte sein Gut, auf dem er bis dahin st;ndig gelebt hatte, verlassen, um seinen Sohn, dem er den ersten Unterricht selbst erteilt hatte, in die Moskauer Universit;t zu geben. Er kaufte sich halb umsonst ein H;uschen in einer der entlegeneren Stra;en und richtete sich darin mit allen seinen B;chern und »Pr;paraten« ein. Von denen hatte er aber eine ganze Menge, denn er war ein Mann, dem die Gelehrsamkeit nicht fremd war, oder ein »geborener Kauz«, wie sich die Nachbarn ausdr;ckten. Sie hielten ihn sogar f;r einen Zauberer und nannten ihn scherzweise »Insektenbeobachter«. Er befa;te sich mit Chemie, Mineralogie, Entomologie, Botanik und Medizin und behandelte freiwillige Patienten mit Kr;utern und Metallpulvern eigener Erfindung nach der Methode des Paracelsus. Mit diesen selben Pulvern hatte er seine h;bsche, junge, aber gar zu schm;chtige Frau, die er leidenschaftlich liebte und von der er den einzigen Sohn hatte, ins Grab gebracht. Mit den gleichen Metallpulvern ruinierte er auch die Gesundheit des Sohnes, w;hrend seine Absicht war, sie zu kr;ftigen, da er in Jakows Organismus eine von der Mutter ererbte An;mie und Neigung zu Schwindsucht gefunden zu haben glaubte. Den Spitznamen »Zauberer« verdankte er unter anderm auch dem Umstande, da; er sich f;r einen Urenkel – nat;rlich nicht in gerader Linie – des ber;hmten Bruce ausgab, dem zu Ehren er seinen Sohn Jakow getauft hatte. Er war, was man so nennt, eine Seele von einem Menschen, hatte aber ein melancholisches, sch;chternes und schwerf;lliges Temperament und eine Neigung f;r alles Geheimnisvolle und Mystische. Ein gefl;stertes »Ah!« war seine gew;hnliche Interjektion; mit diesem »Ah«! auf den Lippen gab er auch, zwei Jahre nach seiner ;bersiedlung nach Moskau, den Geist auf. Sein Sohn Jakow hatte keine #196;hnlichkeit mit dem Vater, der unsch;n, plump und ungelenk gewesen war; er erinnerte eher an die Mutter. Er hatte ihre feinen, anmutigen Z;ge, ihre weichen, aschgrauen Haare, die gleiche geschwungene Nase, die gleichen vollen kindlichen Lippen und gro;en gr;nlichgrauen, etwas verschleierten Augen unter dichten Wimpern. Im Charakter glich er daf;r mehr dem Vater; und sein Gesicht, das dem des Vaters sonst un;hnlich war, zeigte doch dessen Ausdruck. Er hatte auch die knotigen Arme und die eingefallene Brust des alten Aratows, den man ;brigens kaum alt nennen darf, da er, als er starb, noch nicht F;nfzig war. Jakow war noch bei Lebzeiten des Vaters auf die Universit;t, und zwar auf die physikalisch-mathematische Fakult;t, gekommen, aber noch vor Abschlu; des Studiums wieder ausgetreten: nicht etwa aus Faulheit, sondern weil er der Ansicht war, da; man zu Hause ebensoviel lernen k;nne wie auf der Universit;t; ein Diplom brauchte er nicht, da er nicht die Absicht hatte, die Beamtenkarriere einzuschlagen. Er hielt sich von seinen Kollegen fern, machte fast keine Bekanntschaften, ging allen Menschen, besonders aber den Frauen, aus dem Wege und lebte sehr zur;ckgezogen, fast immer in seine B;cher vertieft. Er hatte eine Scheu vor den Frauen, obwohl sein Herz empfindsam war und sich leicht f;r alles Sch;ne begeisterte. Er schaffte sich sogar ein teures englisches Bilderwerk an und weidete sich (o diese Schande!) am Anblick der darin dargestellten weiblichen Sch;nheiten... Von allen anderen Schritten hielt ihn aber seine angeborene Schamhaftigkeit zur;ck. Er bewohnte das gro;e Arbeitszimmer seines Vaters, das ihm zugleich auch als Schlafzimmer diente; er schlief auch in demselben Bett, in dem sein Vater gestorben war. Die wichtigste St;tze seines ganzen Seins, sein unersetzlicher Genosse und Freund war seine Tante, jene selbe Platoscha, mit der er kaum mehr als zehn Worte am Tag wechselte, ohne die er aber keinen Schritt tun konnte. Sie war ein Gesch;pf mit langen Z;hnen und farblosen Augen im langen, blassen Gesicht, das immer den gleichen halb traurigen, halb erschrockenen Ausdruck bewahrte. Immer mit einem grauen Kleid und einem grauen Schal, der nach Kampfer roch, angetan, schlich sie mit unh;rbaren Schlitten wie ein Schatten durch das Haus, seufzte, fl;sterte Gebete – mit besonderer Vorliebe eines, das nur aus zwei Worten bestand: »Gott hilf!« – und f;hrte mit au;erordentlicher T;chtigkeit die Wirtschaft, sparte, wo sie nur konnte, und besorgte selbst alle Eink;ufe. Ihren Neffen verg;tterte sie. Sie war stets nur um seine Gesundheit besorgt und sah ;berall Gefahren f;r ihn; und wenn ihr auch nur das Geringste vorkam, schlich sie leise in sein Zimmer, stellte vor ihn auf den Schreibtisch eine Tasse Brusttee oder streichelte ihm mit ihren H;nden, die so weich wie Watte waren, den R;cken. Jakow empfand diese ewige Besorgtheit um sein Wohlergehen gar nicht als Last, den Brusttee trank er aber nicht und nickte nur anerkennend mit dem Kopfe. Er konnte sich ;brigens wirklich keiner besonders kr;ftigen Konstitution r;hmen. Er war leicht erregbar, nerv;s, hypochondrisch und litt an Herzklopfen, zuweilen auch an Atemnot. Gleich seinem Vater glaubte er daran, da; es in der Natur und in der Menschenseele Geheimnisse gebe, die man zuweilen ahnen, doch niemals ergr;nden k;nne. Er glaubte an die Existenz gewisser manchmal wohlt;tiger, meistens aber feindseliger Kr;fte und Str;mungen; glaubte auch an die Wissenschaft, an ihre W;rde und Bedeutung. In der letzten Zeit befa;te er sich leidenschaftlich mit Photographie. Der Geruch der dabei verwendeten Chemikalien erf;llte die alte Tante mit gro;er Sorge; diese Sorge galt aber nicht ihr selbst, sondern nur Jascha und seiner schwachen Brust. So mild sein Charakter war, so konnte er zuweilen auch recht eigensinnig sein. Mit solchem Eigensinn setzte er auch die Besch;ftigung, an der er soviel Gefallen gefunden, fort. Platoscha f;gte sich dem, seufzte aber noch mehr als fr;her und fl;sterte immer ;fter das Gebet: »Gott hilf!«, wenn sie seine mit Jod gef;rbten Finger sah. Jakow hielt sich, wie gesagt, von allen Kollegen abseits; einem von ihnen aber schlo; er sich recht eng an und setzte den Verkehr mit ihm sogar dann fort, als der bereits die Universit;t verlassen und eine Stellung, die ihm ;brigens wenig Verpflichtungen auferlegte, angenommen hatte: Er »klebte«, wie er sich selbst ausdr;ckte, am Bau der Moskauer Erl;serkathedrale, ohne nat;rlich auch das geringste von Architektur zu verstehen. Es war sehr seltsam: Dieser einzige Freund Aratows, namens Kupfer, ein Deutscher, der aber so sehr verru;t war, da; er keinen Ton Deutsch verstand und sogar das Wort »Deutscher« als Schimpfwort gebrauchte – dieser Freund schien mit Aratow nicht das geringste gemein zu haben. Er war ein schwarzlockiger und rotbackiger, lustiger und redseliger Bursche und gro;er Liebhaber der Damengesellschaft, der Aratow so sorgsam aus dem Wege ging. Kupfer fr;hst;ckte allerdings bei ihm oft, a; bei ihm zu Mittag und lie; sich von ihm manchmal – da er selbst wenig bemittelt war – mit kleineren Summen aushelfen; das war aber noch nicht der Grund daf;r, da; der lebhafte junge Deutsche so oft und so gerne in das gem;tliche H;uschen in der Schabolowka-Vorstadt einkehrte. Es war wohl die seelische Reinheit, der »Idealismus« Aratows, was ihn anzog, vielleicht als Gegensatz zu den Dingen, die er t;glich sah und erlebte; vielleicht ;u;erte sich auch in dieser Vorliebe f;r den ideell veranlagten jungen Mann seine deutsche Natur. Jakow aber hatte Freude an der gutm;tigen Offenherzigkeit Kupfers. Au;erdem interessierten den jungen Einsiedler seine Berichte von den Theatern, Konzerten, B;llen und der ganzen ihm fremden Welt, in der Kupfer heimisch war und in die Aratow sich nicht entschlie;en konnte einzudringen; all das regte ihn sogar auf, ohne in ihm ;brigens den Wunsch zu wecken, diese Dinge aus eigener Anschauung kennenzulernen. Auch Tante Platoscha war dem Kupfer wohl gesinnt. Sie fand zwar sein Benehmen manchmal gar zu ungezwungen, f;hlte aber instinktiv, da; Kupfer aufrichtig an ihrem geliebten Jascha hing und duldete daher nicht nur den ger;uschvollen Gast in ihrer Wohnung, sondern war ihm auch gewogen. II Um die Zeit, von der hier die Rede ist, lebte in Moskau eine verwitwete georgische F;rstin, eine etwas fragw;rdige, beinahe verd;chtige Person. Sie stand in den Vierzigern und war wohl in ihrer Jugend von jener eigent;mlichen orientalischen Sch;nheit gewesen, die so schnell verwelkt: Jetzt puderte und schminkte sie sich und f;rbte sich die Haare gelb. ;ber sie waren allerlei nicht sehr vorteilhafte, etwas unklare Ger;chte im Umlauf; ihren verstorbenen Mann hatte niemand gekannt, auch hatte sie sich in keiner Stadt l;ngere Zeit aufgehalten. Sie hatte weder Kinder noch ein Verm;gen; aber sie lebte – anscheinend auf Kredit oder sonst irgendwie – auf ziemlich gro;em Fu;e, unterhielt einen sogenannten Salon und empfing eine recht gemischte Gesellschaft, die vorwiegend aus jungen Leuten bestand. Alles in ihrem Hause – angefangen von ihren Toiletten, M;beln und K;che bis zur Equipage und Dienerschaft – schien irgendwie unecht, provisorisch und von zweiter G;te; doch die F;rstin und ihre G;ste stellten anscheinend keine h;heren Anspr;che. Die F;rstin galt als Liebhaberin von Musik und Literatur und als Besch;tzerin der K;nstler und Schauspieler. F;r diese Dinge hatte sie ein wirkliches, an Begeisterung grenzendes und durchaus nicht erheucheltes Interesse. In ihr pulsierte zweifellos eine k;nstlerische Ader. Au;erdem hatte sie ein freundliches, angenehmes Wesen, gab sich einfach und ungek;nstelt und war – was die wenigsten merkten – auch recht gutm;tig, weichherzig und nachsichtig... Das sind ja Eigenschaften, die bei Personen dieser Art selten anzutreffen sind und um so h;her gesch;tzt werden sollten. »Das Frauenzimmer ist zwar nichts wert«, sagte von ihr einmal ein geistreicher Herr, »wird aber unbedingt ins Paradies kommen! Sie verzeiht alles, also wird auch ihr alles verziehen werden!« Man erz;hlte sich, da; sie in jeder Stadt, aus der sie verduftete, ebenso viele Gl;ubiger wie Menschen, die sie gl;cklich gemacht hatte, zur;cklie;. Ein weiches Herz l;;t sich eben nach allen Seiten biegen. Kupfer geriet, wie es zu erwarten war, bald in ihren Kreis und wurde mit ihr sehr intim... sogar zu intim, wie b;se Zungen behaupteten. Er selbst sprach ;ber sie nicht nur freundschaftlich, sondern auch mit Hochachtung. Er nannte sie ein goldenes Herz – was man dagegen auch einwenden mochte – und glaubte aufrichtig nicht nur an ihre Liebe zu den K;nsten, sondern auch, da; sie viel von Kunst verst;nde. Als er eines Nachmittags bei den Aratows sa; und die Rede wieder einmal auf die F;rstin und ihre Empf;nge brachte, begann er Jakow zuzureden, wenigstens einmal sein Einsiedlerleben aufzugeben und ihm, Kupfer zu gestatten, ihn bei seiner Freundin einzuf;hren. Jakow wollte anfangs nichts davon h;ren. »Was denkst du dir eigentlich?« rief Kupfer schlie;lich aus. »Wie stellst du dir diese Einf;hrung vor? Ich will dich einfach, so wie du da sitzt, in dem Rock, den du jetzt anhast, nehmen und auf einen ihrer Abende bringen. Bei ihr gibt es gar keine Etikette, mein Lieber! Du bist ja Gelehrter, liebst Literatur und Musik (in Aratows Arbeitszimmer stand tats;chlich ein Pianino, auf dem er manchmal Akkorde mit verminderter Septime anzuschlagen pflegte), bei ihr im Hause findest du aber davon, soviel du willst! Du triffst bei ihr auch recht sympathische Menschen ganz ohne Pr;tensionen! Au;erdem geht es wirklich nicht, da; ein junger Mann in deinem Alter und mit deinem #196;u;ern (Aratow senkte die Augen und machte eine abwehrende Handbewegung), ja, mit deinem #196;u;ern, sich derma;en von Welt und Gesellschaft zur;ckzieht! Es ist ja kein General, zu dem ich dich bringen m;chte! Ich verkehre auch selbst nicht mit Gener;len... Sei nicht so eigensinnig, Liebster! Sittlichkeit ist nat;rlich eine gute und achtbare Sache, man soll aber nicht in Asketismus verfallen! Du willst doch nicht etwa M;nch werden?!« Aratow wollte nicht nachgeben. Kupfer fand aber ganz unerwartete Hilfe bei Platonida Iwanowna. Sie wu;te zwar nicht recht, was das Wort »Asketismus« bedeutete, war aber auch der Meinung, da; es Jaschenjka gar nicht schaden w;rde, sich zu zerstreuen und unter Menschen zu kommen. »Um so mehr«, f;gte sie hinzu, »als ich Fjodor Fjodorowitsch vertraue und wei;, da; er dich an keinen schlechten Ort f;hren wird!« »Ich werde ihn Ihnen in seiner ganzen Makellosigkeit wieder abliefern!« rief Kupfer aus. Platonida Iwanowna sah ihn aber trotz ihres ganzen Vertrauens etwas argw;hnisch an. Aratow err;tete bis ;ber die Ohren, gab aber seinen Widerstand auf. Es endete damit, da; Kupfer ihn am n;chsten Abend zu der F;rstin brachte. Aratow blieb aber nicht lange da. Erstens traf er bei ihr an die zwanzig M;nner und Frauen, die zwar sympathisch schienen, die er aber nicht kannte; das genierte ihn, obwohl er sich nur sehr wenig an der Unterhaltung zu beteiligen brauchte, und davor hatte er ja die allergr;;te Angst. Zweitens mi;fiel ihm die Hausfrau selbst, die ihn zwar sehr freundlich und einfach aufnahm. Alles mi;fiel ihm an ihr: das geschminkte Gesicht, die gebrannten Locken, die heisere, s;;liche Stimme, das schrille Lachen, die Manier, die Augen zu rollen, das viel zu tiefe Dekollet#233; und die dicken, gl;nzenden, mit einer Unmenge von Ringen geschm;ckten Finger. Er sa; in einer Ecke und lie; seine Blicke ;ber die Gesichter der G;ste schweifen, ohne sie recht zu unterscheiden, oder starrte zu Boden. Als sich aber ein zugereister Virtuose mit bleichem Gesicht, langen Haaren und Monokel unter der gekr;mmten Augenbraue vors Klavier setzte, mit aller Wucht in die Tasten schlug, den Fu; aufs Pedal dr;ckte und eine Lisztsche Fantasie ;ber Wagnersche Themen herunterzuhauen begann, war es Aratow doch zuviel, und er brannte durch, einen wirren und schweren Eindruck forttragend, zu dem sich auch noch eine andere, ihm unverst;ndliche, aber bedeutsame und sogar aufregende Stimmung gesellte. III Kupfer a; bei ihm am n;chsten Tag zu Mittag. Er verbreitete sich nicht ;ber den gestrigen Vorfall und machte Aratow nicht einmal Vorw;rfe wegen seiner pl;tzlichen Flucht. Er ;u;erte nur sein Bedauern, da; er das Souper nicht abgewartet hatte, bei dem es Champagner gab (Nischnij-Nowgoroder Provenienz, wie wir in Parenthesen bemerken). Kupfer hatte wohl eingesehen, da; jeder Versuch, den Freund aufzur;tteln, vergebens war und da; Aratow in die Gesellschaft jener Menschen und zu deren Lebensart durchaus nicht pa;te. Auch Aratow seinerseits vermied von der F;rstin und vom gestrigen Abend zu sprechen. Platonida Iwanowna wu;te nicht recht, ob sie diesen Mi;erfolg mit Freude oder Bedauern aufnehmen sollte. Schlie;lich sagte sie sich, da; derlei Unternehmungen Jaschas Gesundheit sch;digen k;nnten, und beruhigte sich damit. Kupfer ging gleich nach dem Essen fort und lie; sich dann volle acht Tage nicht mehr blicken. Nicht etwa, weil er Aratow wegen des Mi;erfolgs seiner Empfehlung schmollte – der gute Kerl war dessen gar nicht f;hig. Er hatte aber wohl eine Besch;ftigung gefunden, die alle seine Sinne und Gedanken gefangenhielt; denn er kam von nun an nur sehr selten zu den Aratows, zeigte einen zerstreuten Ausdruck, sprach wenig und blieb nur kurze Zeit. Aratow lebte ebenso wie fr;her; aber irgend etwas hatte sich wohl in seiner Seele festgesetzt. Er wollte sich immer auf etwas besinnen; er wu;te selbst nicht, was es war, aber dieses »Etwas« hing irgendwie mit dem Abend, den er bei der F;rstin verbracht hatte, zusammen. Dabei sp;rte er nicht den leisesten Wunsch, sie wieder zu besuchen, und die fremde Welt, von der er in ihrem Hause ein Endchen zu sehen bekommen hatte, stie; ihn mehr als je zur;ck. So vergingen an die sechs Wochen. Eines Morgens erschien bei ihm wieder Kupfer, diesmal mit etwas verlegenem Gesicht. »Ich wei;«, begann er mit gezwungenem L;cheln, »da; du an jenem Besuch wenig Gefallen gefunden hast; und doch hoffe ich, da; du meinen Vorschlag nicht zur;ckweisen, da; du mir meine Bitte erf;llen wirst!« »Um was handelt es sich?« fragte Aratow. »Siehst du«, begann Kupfer, immer lebhafter werdend, »es gibt hier einen Verein von Liebhabern, die ab und zu Rezitationsabende, Konzerte und selbst Theaterauff;hrungen mit wohlt;tigem Zweck veranstalten.« »Nimmt auch die F;rstin daran teil?« »Die F;rstin nimmt an allen wohlt;tigen Unternehmungen teil, das macht aber nichts. Wir veranstalten einen literarisch-musikalischen Nachmittag, und bei dieser Gelegenheit kannst du ein junges M;dchen h;ren – ein ganz ungew;hnliches junges M;dchen! Wir wissen noch nicht recht, ob sie eine Rachel oder eine Viardot ist. Denn sie versteht ebenso gut zu singen wie zu rezitieren und zu spielen. Ein ganz erstklassiges Talent, mein Lieber! Ich ;bertreibe gar nicht. Nun also... willst du nicht ein Billett nehmen? In der ersten Reihe kostet es f;nf Rubel.« »Wo kommt dieses ungew;hnliche M;dchen her?« fragte Aratow. »Das wei; ich nicht zu sagen«, erwiderte Kupfer l;chelnd. »In der letzten Zeit hat sie bei der F;rstin Unterkunft gefunden. Die F;rstin protegiert ja, wie du wei;t, alle solche Menschen. Du hast sie wohl auch an jenem Abend gesehen.« Aratow fuhr zusammen – innerlich, ganz schwach –, sagte aber nichts. »Sie hat sogar schon irgendwo in der Provinz gespielt«, fuhr Kupfer fort, »sie ist ;berhaupt f;rs Theater geschaffen. Du wirst sie ja selbst sehen!« »Wie hei;t sie?« fragte Aratow. »Klara.« »Klara?« unterbrach ihn Aratow wieder: »Unm;glich!« »Warum unm;glich? – Klara... Klara Militsch; das ist zwar nicht ihr wirklicher Name, aber alle nennen sie so. Sie wird ein Lied von Glinka singen, dann eines von Tschaikowskij und den Brief Tatjanas aus dem ›Eugen Onjegin‹ rezitieren. Nun, nimmst du ein Billett?« »Wann findet es statt?« »Morgen, morgen um halb zwei, in einem Privatsaal an der Ostoschenka. Ich werde dich abholen. Also ein Billett f;r f;nf Rubel? Da ist es... Nein, es ist eines f;r drei. Hier. Da hast du auch das Programm. Ich geh;re zu den Veranstaltern.« Aratow wurde nachdenklich. Platonida Iwanowna kam in diesem Augenblick ins Zimmer und wurde unruhig, als sie sein Gesicht sah. »Jascha«, rief sie aus, »was hast du? Warum bist du so best;rzt? Fjodor Fjodorowitsch, was haben Sie ihm gesagt?« Aratow lie; aber seinem Freund nicht Zeit, die Frage der Tante zu beantworten, entri; ihm hastig das Billett und sagte Platonida Iwanowna, da; sie Kupfer sofort f;nf Rubel geben solle. Die Tante wunderte sich und zwinkerte mit den Augen. Sie gab aber Kupfer das Geld und sagte kein Wort. Jascha hatte sie gar zu streng angefahren. »Ich sage dir – ein Wunder aller Wunder!« sagte Kupfer und st;rzte zur T;r. »Erwarte mich morgen!« »Hat sie schwarze Augen?« rief ihm Aratow nach. »Wie Kohle!« antwortete Kupfer, lachte vergn;gt und verschwand. Aratow zog sich in sein Zimmer zur;ck, Platonida Iwanowna blieb aber ganz starr stehen und fl;sterte immer vor sich hin: »Gott hilf! Hilf Gott!« IV Als Aratow und Kupfer kamen, war der gro;e Saal im Privathaus an der Ostoschenka schon zur H;lfte gef;llt. In diesem Saal fanden zuweilen Theaterauff;hrungen statt, aber diesmal waren weder Dekorationen noch ein Vorhang zu sehen. Die Veranstalter hatten sich darauf beschr;nkt, an dem einen Ende des Saales ein Podium zu errichten, ein Klavier, einige Notenpulte und einen Tisch mit einer Wasserkaraffe und einem Glas hinzustellen und die T;r zu dem f;r die Mitwirkenden bestimmten Zimmer mit rotem Tuch zu verh;ngen. In der ersten Reihe sa; bereits in hellgr;ner Toilette die F;rstin; Aratow wechselte mit ihr kaum einen Gru; und lie; sich in einiger Entfernung von ihr nieder. Das Publikum war recht gemischt; die studierende Jugend war in der ;berzahl. Kupfer, der als Veranstalter eine wei;e Schleife am Fracklatz hatte, lief hin und her und tat sehr gesch;ftig. Die F;rstin sah sich in sichtbarer Erregung fortw;hrend nach allen Seiten um, l;chelte und sprach die in ihrer N;he Sitzenden an. Sie war ;brigens von lauter M;nnern umgeben. Als erste Nummer trat ein Fl;tist von schwinds;chtigem Aussehen aufs Podium und spuckte, ich wollte sagen, blies h;chst gewissenhaft ein gleichfalls schwinds;chtiges St;ck; zwei Zuh;rer schrien »Bravo!« Dann erschien ein dicker Herr mit Brille, von solidem, sogar griesgr;migem Aussehen, und las mit Ba;stimme eine Skizze von Schtschedrin. Man applaudierte, doch nur der Skizze und nicht ihm. Darauf erschien der Pianist, den Aratow schon kannte, und h;mmerte die gleiche Lisztsche Fantasie herunter; der Pianist errang sogar einen Hervorruf. Er verbeugte sich, wobei er sich mit einer Hand auf die Stuhllehne st;tzte und nach jeder Verbeugung die M;hne sch;ttelte – ganz wie Liszt! Endlich, nach einer recht langen Pause, geriet das rote Tuch hinter dem Podium in Bewegung, die T;r ging weit auf, und auf dem Podium erschien Klara Militsch. Man begr;;te sie mit lebhaftem Applaus. Sie ging mit etwas unsicheren Schritten bis an den vorderen Rand des Podiums und blieb, die etwas gro;en, sch;nen unbehandschuhten H;nde gekreuzt, ohne Verbeugung, ohne Kopfnicken und ohne L;cheln unbeweglich stehen. Sie war etwa neunzehn, gro;, etwas breitschultrig, doch gut gebaut. Ihr dunkles Gesicht erinnerte an eine J;din oder Zigeunerin; sie hatte schwarze, nicht sehr gro;e Augen unter dichten, fast zusammengewachsenen Brauen, eine gerade, etwas aufgeworfene Nase, sch;ne, doch stark geschwungene Lippen, einen dicken, schwarzen, anscheinend sehr schweren Zopf, eine niedere, unbewegliche, wie aus Stein gemei;elte Stirn und winzige Ohren. Der Ausdruck war nachdenklich, beinahe streng. Alles zeugte von einer leidenschaftlichen, eigensinnigen, wohl kaum gutm;tigen und klugen, aber sicher talentierten Natur. Sie stand eine Weile mit gesenkten Lidern da, fuhr pl;tzlich zusammen und lie; einen durchdringenden, doch zerstreuten, gleichsam nach innen gekehrten Blick ;ber die Reihen der Zuschauer schweifen. »Was f;r tragische Augen sie hat!« bemerkte hinter Aratows R;cken ein grauhaariger Geck mit dem Gesicht einer Revaler Kokotte, ein in Moskau allen bekannter Journalist und Kundschafter. Der Geck war dumm und wollte eine Dummheit sagen, sagte aber die Wahrheit! Aratow, der von Klara keinen Blick wenden konnte, erinnerte sich jetzt, da; er sie tats;chlich schon bei der F;rstin gesehen hatte; er hatte sie nicht blo; gesehen, sondern auch bemerkt, da; sie ihre dunklen, starren Augen einigemal mit besonderem Ausdruck auf ihn richtete. Und auch jetzt – oder kam es ihm blo; so vor –, als sie ihn in der ersten Reihe erblickte, err;tete sie vor Freude und sah ihn wieder durchdringend an. Dann trat sie, ohne sich umzuwenden, einige Schritte in der Richtung zum Klavier zur;ck, an dem schon der langhaarige Ausl;nder sa;. Sie sollte Glinkas Lied »Kaum hab' ich dich erkannt...« singen. Sie sang es, ohne die Haltung der H;nde zu ver;ndern und ohne in die Noten zu blicken. Sie hatte eine melodische, weiche Altstimme, sprach die Worte deutlich, mit starker Betonung aus und sang etwas eint;nig, ohne Nuancierung, aber mit starkem Ausdruck. »Das M;del singt mit ;berzeugung!« sagte der gleiche Geck hinter Aratows R;cken und hatte wieder recht. Man rief von allen Seiten: »Bravo! Bis!« sie aber warf nur einen schnellen Blick auf Aratow, der weder schrie noch klatschte – ihr Gesang hatte ihm nicht gefallen –, machte eine leichte Verbeugung und ging, ohne den ihr vom langhaarigen Pianisten angebotenen Arm zu nehmen. Man rief sie heraus. Sie kam nach einer l;ngeren Weile, n;herte sich mit den gleichen unsicheren Schritten dem Klavier, fl;sterte dem Pianisten einige Worte zu, der an Stelle der bereitgelegten Noten andere heraussuchen mu;te, und begann das Tschaikowskijsche Lied: »Nur wer die Sehnsucht kennt...« Dieses Lied sang sie etwas anders als das erste: mit ged;mpfter Stimme, gleichsam m;de. Aber in der vorletzten Zeile: »Begreift, wie sehr ich litt« lie; sie einen hei;en, gellenden Schrei erklingen. Die Schlu;worte aber: »Und wie ich leide...« fl;sterte sie, das letzte Wort schmerzvoll dehnend. Das Lied gefiel dem Publikum weniger als das von Glinka, aber man klatschte ebensoviel. Kupfer zeichnete sich darin besonders aus: Er legte die H;nde nach besonderem System zu einem Art F;;chen zusammen und erzeugte ungew;hnlich laute, hallende T;ne. Die F;rstin gab ihm einen gro;en, zerzausten Blumenstrau;, damit er ihn der S;ngerin ;berreiche. Die schien aber Kupfers gebeugte Gestalt und seine mit dem Blumenstrau; ausgestreckte Hand gar nicht zu sehen; sie wandte sich um und ging wieder allein, ohne den Pianisten, der noch schneller als das erste Mal aufgesprungen war, um sie hinauszubegleiten. Als ihm das nicht gelang, sch;ttelte er seine Locken so, wie Liszt die seinigen wohl niemals sch;ttelte! Solange Klara sang, beobachtete Aratow aufmerksam ihr Gesicht. Es schien ihm, da; ihre Blicke durch die gesenkten Wimpern auf ihn allein gerichtet waren; den gr;;ten Eindruck auf ihn aber machte die Unbeweglichkeit dieses Gesichts, der Stirn und Brauen. Bei ihrem letzten leidenschaftlichen Aufschrei bemerkte er, wie zwischen den halbge;ffneten Lippen eine wei;e, enge Zahnreihe warm aufleuchtete. Kupfer ging auf ihn zu. »Nun, wie findest du sie, mein Lieber?« fragte er, vor Vergn;gen strahlend. »Die Stimme ist gut«, antwortete Aratow, »sie versteht aber nicht zu singen und hat noch keine richtige Schule.« (Gott allein wei;, warum er das sagte und was er von »Schule« verstand.) Kupfer war erstaunt. »Keine Schule!« wiederholte er gedehnt: »Nun, das kann sie ja noch lernen. Aber die Seele! Wart, du wirst ja gleich h;ren, wie sie den Brief Tatjanas rezitiert.« Er lief fort und lie; Aratow stehen. Der aber dachte: Eine Seele! Bei diesem unbeweglichen Gesicht! Er fand, da; sie wie eine Magnetisierte, wie eine Somnambule stand und sich bewegte. Und dabei sah sie ihn immer an... Ja, sie sah ihn an, daran war nicht zu zweifeln. Der »Nachmittag« nahm indessen seinen Fortgang. Der dicke Herr mit der Brille trat wieder auf; trotz seines ernsten Aussehens, bildete er sich ein, Komiker zu sein, und las eine Szene von Gogol. Diesmal erntete er aber nicht die geringste Anerkennung. Der Fl;tist huschte noch einmal vorbei; der Pianist lie; wieder das Klavier erdr;hnen; ein zw;lfj;hriger Junge, mit pomadisiertem und gebranntem Haar, doch Spuren von Tr;nen auf den Wangen, geigte irgendwelche Variationen. Es fiel auf, da; man in den Pausen aus dem K;nstlerzimmer die T;ne eines Waldhorns h;rte, w;hrend dieses Instrument im Laufe der Veranstaltung kein einziges Mal auf dem Podium erschien. Wie es sich sp;ter herausstellte, hatte der Liebhaber, der Waldhorn spielen sollte, im letzten Augenblick vor dem ;ffentlichen Auftreten Angst bekommen. Endlich erschien wieder Klara Militsch. Sie hielt ein B;ndchen Puschkin in der Hand, in das sie aber w;hrend des Vortrags kein einziges Mal hineinblickte. Sie war offenbar etwas befangen; das kleine Buch zitterte leise in ihren Fingern. Aratow merkte auch einen Ausdruck von Trauer, der jetzt auf ihren strengen Z;gen lag. Den ersten Vers: »Ich schreibe Ihnen... und was weiter?« sprach sie au;erordentlich einfach, fast naiv, beide Arme mit aufrichtig naiver, hilfloser Geb;rde vor sich ausstreckend. Dann schlug sie ein etwas zu schnelles Tempo ein. Aber bei den Versen: »Ein and'rer? Nein! Mein Herz soll niemand haben...« beherrschte sie sich schon wieder und als sie zu der Stelle kam: »Mein ganzes Leben war Verhei;ung, da; ich dich treffe...«, erklang ihre bis dahin etwas dumpfe Stimme begeistert und k;hn, w;hrend sie ihre Augen ebenso k;hn und gerade auf Aratow richtete. Mit dieser Begeisterung fuhr sie fort, und nur ganz am Schlu; klang ihre Stimme wieder ged;mpft und dr;ckte, ebenso wie ihr Gesicht, die fr;here Trauer aus. Die letzten vier Zeilen leierte sie schnell herunter, das B;ndchen Puschkin entglitt ihrer Hand, und sie verlie; rasch das Podium. Das Publikum raste. Das Klatschen und Hervorrufen wollte kein Ende nehmen. Ein Seminarist kleinrussischer Abstammung br;llte so laut »Mylytsch! Mylytsch!«, da; ihn ein neben ihm sitzender Herr h;flich und teilnahmsvoll ersuchte, »den k;nftigen Protodiakon in sich zu schonen«. Aratow aber erhob sich sofort von seinem Platz und eilte dem Ausgang zu. Kupfer holte ihn ein. »Was f;llt dir ein? Wo willst du hin?« schrie er ihn an. »Willst du nicht, da; ich dich der Klara vorstelle?« »Nein, danke«, erwiderte Aratow eilig und lief nach Hause. V Seltsame, ihm selbst noch unklare Empfindungen brachten seine ganze Seele in Aufruhr. Klaras Rezitation hatte ihm eigentlich ebenso wenig gefallen wie ihr Gesang; obwohl er sich keine Rechenschaft dar;ber geben konnte, warum. Die Rezitation hatte ihn irgendwie beunruhigt; sie erschien ihm allzu scharf und unharmonisch. Sie st;rte irgendein Gleichgewicht in ihm und kam ihm wie eine Vergewaltigung vor. Und dann diese unverwandten, hartn;ckigen, beinahe zudringlichen Blicke – wozu diese Blicke? Was hatten sie zu bedeuten? Die angeborene Bescheidenheit lie; in Aratow auch nicht den leisesten Gedanken aufkommen, da; er diesem seltsamen jungen M;dchen gefallen und ein Gef;hl eingefl;;t haben k;nne, das der Liebe, der Leidenschaft gliche. Er stellte sich jenes noch unbekannte weibliche Wesen, jenes M;dchen, dem er dereinst seine Seele hingeben, das ihn lieben und seine Braut, seine Gattin werden w;rde, ganz anders vor... Er gab sich aber nur sehr selten solchen Tr;umen hin: Er war an Leib und Seele keusch, und das keusche Bild, das in seiner Phantasie manchmal auftauchte, war von einem andern Bild – vom Bilde seiner Mutter gezeugt, an die er sich kaum erinnern konnte, deren Bildnis er aber wie ein Heiligtum bewahrte. Es war ein Aquarellbild, das eine Freundin der Verstorbenen ohne besondere Kunst gemalt hatte, das ihr aber, wie alle behaupteten, erstaunlich ;hnlich war. Das gleiche zarte Profil, die gleichen g;tigen, hellen Augen, die gleichen seidenweichen Haare, das gleiche L;cheln und den gleichen heiteren Ausdruck mu;te auch jene Frau oder jenes M;dchen haben, an die er noch nicht einmal zu denken wagte. Aber diese Schwarze, mit der dunklen Hautfarbe und den struppigen Haaren, mit dem Anflug von Schnurrbart ist sicher verdreht und nicht gut... Eine »Zigeunerin« – Aratow konnte keine ver;chtlichere Bezeichnung erfinden –, was soll er mit ihr? Aratow hatte aber nicht die Kraft, die schwarze Zigeunerin, deren Gesang und Deklamation und selbst deren #196;u;eres ihm gar nicht gefielen, aus seinem Hirn zu verdr;ngen. Er war ganz durcheinander und machte sich selbst Vorw;rfe. Kurz vorher hatte er den Walter-Scott-Roman »Die Wasser von St. Ronan« gelesen (die vollst;ndige Ausgabe der Werke Walter Scotts befand sich in der Bibliothek seines Vaters, der in diesem englischen Dichter einen ernsten, beinahe wissenschaftlichen Schriftsteller achtete). Die Heldin dieses Romans hie; Klara Mowbray. Ein russischer Dichter der vierziger Jahre, Krassow, hatte ihr ein Gedicht gewidmet, das mit den Worten endete: Unselige Klara! Wahnsinnige Klara! Unselige Klara Mowbray! Aratow kannte auch dieses Gedicht. Und nun kamen ihm diese Worte immer wieder in den Sinn: »Unselige Klara, wahnsinnige Klara!...« – Darum war er auch so erstaunt, als Kupfer ihm sagte, das junge M;dchen hei;e mit dem Vornamen Klara. Selbst Platoscha fiel an ihm etwas auf: nicht etwa eine Ver;nderung in Jakows Stimmung – es war ja in ihm gar keine Ver;nderung eingetreten, aber etwas Seltsames in seinen Blicken und Reden. Sie erkundigte sich vorsichtig nach dem literarischen Nachmittag, den er besucht hatte, fl;sterte, seufzte, sah ihn aufmerksam von vorne, von der Seite und von r;ckw;rts an, schlug sich pl;tzlich mit den H;nden auf die Schenkel und rief aus: »Jascha, jetzt wei; ich, was es ist!« »Was ist denn los?« fragte Aratow. »Du bist dort sicher auf eine von den Schweifschlepperinnen gesto;en« – so pflegte Platonida Iwanowna alle Damen in modernen Toiletten zu nennen. »Sie hat wohl eine h;bsche Fratze, dreht sich hin und dreht sich her, schneidet Gesichter« – Platoscha stellte das alles mimisch dar – »l;;t die Blicke schweifen« – sie zeigte auch das, indem sie mit dem Zeigefinger einige gro;e Kreise in der Luft beschrieb. »Und du hast dir vor lauter Ungewohnheit irgend etwas eingebildet... Es macht aber nichts, Jascha, es macht gar nichts! Trink vor dem Schlafengehen eine Tasse Tee, und fertig! Hilf Gott!« Platoscha verstummte und zog sich zur;ck. Es war wohl die erste l;ngere, lebhafte Rede, die sie in ihrem Leben gehalten hatte. Aratow aber sagte sich: Die Tante hat wohl recht. Das kommt alles von der Ungewohntheit... Er hatte ja tats;chlich zum ersten Mal im Leben die Aufmerksamkeit eines weiblichen Wesens erregt; er hatte wenigstens bisher nichts dergleichen gemerkt. – Man darf sich nicht so gehenlassen! Und er vertiefte sich in seine B;cher, trank abends eine Tasse Lindenbl;tentee und schlief die Nacht sogar sehr gut und ohne Tr;ume. Am n;chsten Morgen machte er sich wieder, als ob nichts geschehen w;re, an die Photographie. Abends aber wurde seine Seelenruhe wieder getr;bt. VI Abends brachte ihm ein Dienstmann einen Zettel, in dem in unregelm;;igen, gro;en, weiblichen Schriftz;gen folgendes stand: »Wenn Sie erraten k;nnen, wer das schreibt, und wenn es Sie nicht langweilt, so kommen Sie morgen nachmittag auf den Twerskoi-Boulevard – gegen f;nf Uhr – und warten Sie dort. Man wird Sie nicht lange aufhalten. Es ist aber sehr wichtig. Kommen Sie.« Eine Unterschrift fehlte. Aratow erriet sofort, von wem der Zettel war, und das emp;rte ihn. »Was f;r Unsinn!« sagte er sich beinahe laut. »Das fehlte mir noch gerade. Nat;rlich gehe ich nicht hin.« Er lie; dennoch den Dienstmann zur;ckrufen, erfuhr aber von ihm nur, da; ihm der Brief auf der Stra;e von einem Dienstm;dchen ;bergeben worden war. Aratow entlie; den Dienstmann, las den Brief noch einmal durch und warf ihn auf den Boden... Etwas sp;ter hob er ihn wieder auf, las ihn noch einmal durch, sagte wieder: »Unsinn!«, warf ihn aber diesmal nicht auf den Boden, sondern steckte ihn in eine Schublade. Er versuchte, an seine gewohnten Arbeiten zu gehen, bald an die eine, bald an die andere, es wollte ihm aber diesmal nichts gelingen. Pl;tzlich merkte er, da; er eigentlich auf Kupfer wartete! Er wollte ihn wohl ausfragen, oder es ihm vielleicht sogar mitteilen – Kupfer kam aber nicht. Aratow nahm seinen Puschkin vor, las den Brief Tatjanas durch und ;berzeugte sich von neuem, da; die »Zigeunerin« den tieferen Sinn des Briefes gar nicht verstanden hatte. Und dieser dumme Kupfer spricht von einer Viardot und Rachel! Er trat vor sein Pianino, hob fast unbewu;t den Deckel und versuchte die Melodie des Tschaikowskijschen Liedes aus dem Ged;chtnis zu reproduzieren. Er klappte aber den Deckel ge;rgert gleich wieder zu und ging zur Tante. In ihrem ;berheizten Zimmer roch es ewig nach Minze, Salbei und andern Heilkr;utern und standen und lagen so viele kleine Teppiche, Etageren, Fu;b;nkchen, Kissen und weiche M;bel herum, da; ein Fremder sich darin kaum r;hren und fast nicht atmen konnte. Platonida Iwanowna sa; mit ihrem Strickzeug am Fenster – sie strickte f;r Jaschenjka ein warmes Halstuch, und zwar das achtunddrei;igste in seinem Leben – und war ;ber sein Erscheinen sehr erstaunt. Aratow besuchte sie ;u;erst selten; wenn er von ihr etwas wollte, rief er sonst immer mit seiner hohen Stimme aus dem Arbeitszimmer: »Tante Platoscha!« – Sie forderte ihn aber zum Sitzen auf, richtete ein Auge durch die Brille auf ihn, das andere ;ber die Brille und war, in Erwartung seiner Worte, ganz Ohr. Sie erkundigte sich nicht nach seinem Befinden und bot ihm auch keinen Tee an, denn sie sah, da; er nicht deswegen zu ihr gekommen war. Aratow r;ckte zuerst verlegen hin und her und begann dann von seiner Mutter zu sprechen: wie sie mit seinem Vater gelebt und wie der Vater sie kennengelernt habe. Er wu;te das alles sehr genau, wollte aber unbedingt dar;ber sprechen. Zu seinem Ungl;ck hatte Tante Platoscha gar kein Konversationstalent und beantwortete seine Fragen sehr kurz, als h;tte sie ihn im Verdacht, da; er gar nicht deswegen zu ihr gekommen sei. »Gewi;«, wiederholte sie immer wieder, die Stricknadeln sehr schnell, vielleicht mit einer gewissen Gereiztheit bewegend. »Gewi;, deine Mutter war eine Taube, eine sanfte Taube. Und dein Vater liebte sie, wie ein Mann seine Frau lieben mu;: ehrlich und treu bis in den Tod. Er hat auch keine andere Frau geliebt«, f;gte sie hinzu, wobei sie die Stimme hob und die Brille von der Nase nahm. »War sie von Natur sch;chtern?« fragte Aratow nach einer Pause. »Gewi;, sehr sch;chtern. Wie es eben dem weiblichen Geschlecht geziemt. Dreiste Frauenzimmer sind ja erst in der letzten Zeit aufgekommen.« »Hat es denn zu Ihren Zeiten keine dreisten gegeben?« »Es gab auch in unserer Zeit welche – wann hat es solche nicht gegeben?! Aber wer waren sie? Irgendwelche schamlose Herumtreiberinnen, die mit gerafften R;cken wie besessen durch die Stra;en rannten... Was riskierten sie auch? Wenn sie auf einen Dummen stie;en, so hatten sie eben Gl;ck. Anst;ndige Menschen wollten aber von ihnen nichts wissen. Kannst du dich denn erinnern, bei uns im Hause so ein Frauenzimmer gesehen zu haben?« Aratow antwortete nichts und ging wieder in sein Arbeitszimmer. Platonida Iwanowna blickte ihm nach, sch;ttelte den Kopf, setzte sich die Brille auf und machte sich wieder an das Halstuch. Jetzt war sie aber nicht mehr ganz bei der Sache und lie; die Stricknadeln mehr als einmal auf den Scho; fallen. Aratow aber dachte den ganzen Tag bis zum sp;ten Abend immer wieder mit dem gleichen #196;rger, mit der gleichen Erbosung an den Zettel, an die Zigeunerin und an das Stelldichein, zu dem er nat;rlich nicht gehen w;rde. Die Zigeunerin hielt auch nachts alle seine Sinne gefangen. Er sah immer ihre bald zusammengekniffenen, bald weitge;ffneten Augen mit dem durchdringenden, gerade auf ihn gerichteten Blick und ihre unbeweglichen Z;ge mit dem zwingenden Ausdruck. Am n;chsten Morgen wartete er wieder, er wu;te selbst nicht warum, auf Kupfer; beinahe h;tte er ihm sogar einen Brief geschrieben. Im ;brigen tat er nichts und ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Er lie; den Gedanken gar nicht in sich aufkommen, da; er zu dem dummen Rendezvous gehen w;rde. Aber um halb vier, nach dem Mittagessen, das er in aller Eile hinuntergest;rzt hatte, zog er pl;tzlich den Mantel an, st;lpte sich die M;tze auf, verlie;, ohne der Tante auch nur ein Wort zu sagen, das Haus und begab sich auf den Twerskoi-Boulevard. VII Aratow traf auf dem Boulevard nur sehr wenige Passanten. Die Witterung war feucht und recht kalt. Er gab sich M;he, an sein Beginnen gar nicht zu denken, und alle Dinge, auf die er stie;, aufmerksam zu betrachten. Er hatte sich beinahe eingeredet, da; er ganz einfach, ebenso wie alle Leute, denen er begegnete, spazierengehe. Der gestrige Brief lag in seiner Brusttasche, und er f;hlte ihn fortw;hrend daliegen. Er ging zweimal durch den Boulevard, betrachtete aufmerksam jedes weibliche Wesen, dem er begegnete, und hatte furchtbares Herzklopfen. Er sp;rte M;digkeit und setzte sich auf eine Bank. Pl;tzlich kam ihm der Gedanke: Vielleicht ist der Brief gar nicht von ihr, sondern von irgendeiner andern Frau? Eigentlich h;tte es ihm auch ganz gleich sein sollen – und doch mu;te er sich gestehen, da; es ihm nicht gleichg;ltig war. Das w;re ja schon gar zu dumm! sagte er sich. Noch d;mmer als das andere! Eine nerv;se Unruhe bem;chtigte sich seiner; es fr;stelte ihn, doch von innen und nicht von au;en. Er holte einige Male die Uhr aus der Westentasche, steckte sie dann wieder ein und verga; jedesmal, wieviel Minuten bis f;nf Uhr noch blieben. Es schien ihm, da; alle Vor;bergehenden ihn mit sp;ttischem Erstaunen und Neugierde betrachteten. Irgendein gemeiner K;ter lief auf ihn zu, schn;ffelte an seinen Beinen und wedelte mit dem Schwanz. Er drohte ihm mit dem Stock. Am meisten ;rgerte er sich ;ber einen Lehrjungen in langem Zwillichrock, der auf einer Bank gegen;bersa; und ihn, bald pfeifend, bald sich juckend und mit den in gro;en zerrissenen Stiefeln steckenden Beinen baumelnd, fortw;hrend ansah. Der Meister wartet wohl auf ihn, dachte sich Aratow, der Faulenzer sitzt aber da und tut nichts... Im selben Augenblick f;hlte er aber, wie sich ihm jemand n;herte und hinter ihm stehenblieb. Es wehte ihn mit seltsamer W;rme an... Er sah sich um: Es war sie! Er erkannte sie sofort, obwohl ihr Gesicht von einem dichten dunkelblauen Schleier verdeckt war. Er sprang auf und blieb stehen, au;erstande auch nur ein Wort zu sagen. Auch sie schwieg. Er f;hlte sich sehr verlegen, aber auch sie schien es zu sein. Aratow sah sogar durch den Schleier, wie leichenbla; sie pl;tzlich wurde. Aber sie fing als erste zu sprechen an. »Ich danke Ihnen«, begann sie mit gebrochener Stimme, »ich danke, da; Sie gekommen sind. Ich hoffte gar nicht...« Sie wandte den Kopf etwas zur Seite und ging weiter. Aratow folgte ihr. »Sie verurteilen mich vielleicht«, fuhr sie fort, ohne das Gesicht zu ihm zu wenden. »Mein Entschlu; ist in der Tat sehr seltsam. Ich habe aber so viel ;ber Sie geh;rt... Doch nein, das ist nicht der Grund. Wenn Sie w;;ten... Ich wollte Ihnen so vieles sagen, mein Gott! Aber wie soll ich es tun, wie soll ich es tun?« Aratow ging, ein wenig zur;ckbleibend, an ihrer Seite. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, er sah nur den Hut und einen Teil des Schleiers – und den schwarzen, langen, ziemlich abgetragenen Umhang. Der ganze #196;rger ;ber sie und sich selbst war pl;tzlich wiedergekehrt; er f;hlte auf einmal, wie l;cherlich und sinnlos dieses Stelldichein, diese Aussprache zwischen zwei wildfremden Menschen in einer ;ffentlichen Anlage war. »Ich kam auf Ihre Einladung«, fing er nun an, »ich kam, gn;diges Fr;ulein (ihre Schultern erzitterten leise, sie bog in einen Seitenweg ab, und er folgte ihr), nur um festzustellen – um das seltsame Mi;verst;ndnis aufzukl;ren, das Sie veranla;te, sich an mich, einen Ihnen v;llig fremden Menschen, zu wenden, der nur aus dem Grunde, wie Sie sich selbst ausdr;ckten, erraten hat, da; Sie die Briefschreiberin sind, weil es Ihnen beliebte, w;hrend jenes literarischen Nachmittags ihm eine allzu... allzu auff;llige Aufmerksamkeit zuzuwenden!« Aratow hielt diese kurze Rede mit jener gespannten doch festen Stimme, mit der sehr junge Menschen im Examen eine Frage zu beantworten pflegen, auf die sie sich besonders gut vorbereitet haben. Er z;rnte. Dieser Zorn hatte ihm auch seine sonst wenig gelenkige Zunge gel;st. Sie ging mit etwas verlangsamten Schritten immer weiter. Aratow folgte ihr und sah noch immer nur den alten Umhang und den ebenfalls nicht sehr neuen Hut. Seine Selbstachtung litt unter dem Gedanken, da; sie sich jetzt sagen m;;te: Ich brauchte ihm nur zu winken, und er kam sofort gelaufen! Aratow schwieg. Er wartete noch immer auf ihre Antwort, aber sie sagte nichts. »Ich bin bereit, Sie anzuh;ren«, begann er von neuem, »und es wird mich sogar sehr freuen, wenn ich Ihnen irgendwie n;tzlich sein kann; obwohl ich wiederum staunen mu; – bei meiner zur;ckgezogenen Lebensweise...« Bei seinen letzten Worten wandte sich Klara pl;tzlich nach ihm um, und er sah ein so erschrockenes, so tief trauriges Gesicht mit so hellen gro;en Tr;nentropfen in den Augen und einem so schmerzvollen Ausdruck um die halbge;ffneten Lippen – und dieses Gesicht war sch;n –, da; er pl;tzlich stockte und sogar etwas wie Angst, zugleich aber auch Mitleid und R;hrung sp;rte. »Ach, warum – warum sprechen Sie so...«, sagte sie, und ihre Stimme klang ungemein r;hrend. »Habe ich Sie denn damit, da; ich mich an Sie wandte, beleidigen k;nnen? Haben Sie mich gar nicht verstanden? Ach ja! Sie haben nichts davon verstanden, was ich Ihnen sagte! Sie haben sich, Gott wei;, was von mir gedacht und sich nicht einmal gefragt, welche M;he es mich kostete, Ihnen zu schreiben. Sie waren nur um sich selbst, um Ihre W;rde und Ihre Ruhe besorgt! Habe ich denn... (Sie dr;ckte ihre H;nde, die sie vor dem Munde hielt, so fest zusammen, da; Aratow die Finger knacken h;rte.) Als ob ich von Ihnen etwas verlangte, als ob irgendwelche Aufkl;rungen n;tig w;ren: ›Gn;diges Fr;ulein‹, ›ich mu; staunen‹, ›n;tzlich sein‹... Ach, ich Wahnsinnige! Ich lie; mich von Ihnen, von Ihrem Gesicht t;uschen. Als ich Sie zum ersten Male sah... Ja, so stehen Sie da – und kein einziges Wort! Werde ich denn kein einziges Wort zu h;ren bekommen?« Sie flehte. Ihr Gesicht wurde rot und bekam einen b;sen und herausfordernden Ausdruck. »Mein Gott, wie dumm!« rief sie, schrill auflachend, aus. »Wie dumm ist doch dieses Stelldichein! Wie dumm bin ich! Und auch Sie... Pfui!« Sie winkte ver;chtlich mit der Hand, als ob sie ihn zur Seite schieben wollte, lief an ihm vorbei, verlie; schnell den Boulevard und verschwand. Diese Handbewegung, das beleidigende Lachen und ihr letzter Ausruf versetzten Aratow sofort in seine fr;here Stimmung und erstickten in ihm das Gef;hl, das sich in seiner Seele geregt hatte, als sie sich mit Tr;nen in den Augen an ihn wandte. Er wurde wieder b;se und war bereit, dem M;dchen nachzurufen: Sie haben wohl das Zeug zu einer guten Schauspielerin, warum m;ssen Sie aber unbedingt vor mir Kom;die spielen? Mit gro;en Schritten eilte er nach Hause. Obwohl er unterwegs noch immer b;se und emp;rt war, drang doch durch alle die b;sen und geh;ssigen Gef;hle, ohne da; er es wollte, die Erinnerung an jenes wunderbare Gesicht, das er nur einen Augenblick lang gesehen hatte. Er fragte sich sogar: Warum antwortete ich ihr nicht, als sie mich um ein einziges Wort bat? – Ich hatte nicht Zeit... sagte er sich. Sie lie; mich gar nicht zu Worte kommen... Und was f;r ein Wort h;tte ich ihr auch sagen k;nnen? – Er sch;ttelte aber gleich wieder den Kopf und sagte mi;billigend: »Kom;diantin!« Und dennoch: Dem anfangs verletzten Ehrgeiz des unerfahrenen, nerv;sen J;nglings schmeichelte es irgendwie, da; er eine solche Leidenschaft hatte wecken k;nnen. In diesem Augenblick aber, fuhr er in seinen Gedanken fort, ist nat;rlich alles zu Ende. Ich bin ihr offenbar l;cherlich vorgekommen... Dieser Gedanke war ihm unangenehm, und er wurde wieder b;se – ;ber sich selbst und ;ber sie. Nach Hause zur;ckgekehrt, schlo; er sich in seinem Arbeitszimmer ein: Er wollte Platoscha jetzt nicht sehen. Die gute Alte kam zweimal vor seine T;r, dr;ckte das Ohr ans Schl;sselloch, seufzte und fl;sterte ihr Gebet. Es hat angefangen! dachte sie. Er ist aber kaum f;nfundzwanzig... Viel zu fr;h, viel zu fr;h! VIII Aratow war den ganzen folgenden Tag mi;gestimmt. »Was hast du, Jascha?« fragte ihn Platonida Iwanowna: »Du kommst mir heute so zerzaust vor!« Dieser eigent;mliche Ausdruck der Alten kennzeichnete ziemlich richtig den Seelenzustand Aratows. Er konnte nicht arbeiten und wu;te selbst nicht, was er eigentlich wollte. Bald wartete er wieder auf Kupfer (er war ;berzeugt, da; Klara seine Adresse von Kupfer bekommen hatte; von wem sonst h;tte sie auch »so viel ;ber ihn h;ren« k;nnen?); bald fragte er sich erstaunt, ob seine Bekanntschaft mit ihr schon zu Ende sei; bald bildete er sich ein, da; sie ihm wieder schreiben w;rde; bald fragte er sich, ob er ihr nicht schreiben und alles erkl;ren sollte: Er wollte ja immerhin keinen schlechten Eindruck zur;cklassen... Was sollte er ihr aber erkl;ren? – Bald weckte er in sich eine Abscheu vor ihr und ihrer frechen Zudringlichkeit; bald sah er wieder jenes unsagbar r;hrende Gesicht vor sich und h;rte ihre ;berzeugende, bezaubernde Stimme; bald rief er in sich die Erinnerung an ihren Gesang und ihre Rezitation wach und zweifelte, ob sein ablehnendes Urteil auch gerecht war. Mit einem Worte: Er war zerzaust! Endlich hatte er genug davon und beschlo;, sich, wie man sagt, in die Hand zu nehmen und diese ganze Geschichte zu vergessen, da sie ihm bei seinen Arbeiten zweifellos hinderlich war und seine Ruhe st;rte. Es fiel ihm aber gar nicht so leicht, diesen Entschlu; durchzuf;hren. Es dauerte l;nger als eine Woche, ehe er wieder ins gewohnte Geleis kam. Kupfer lie; sich gl;cklicherweise nicht blicken: er schien aus Moskau verschwunden zu sein. Kurz vor dieser Geschichte hatte Aratow angefangen, sich mit Malerei, die er bei seinen photographischen Arbeiten brauchte, zu besch;ftigen; nun widmete er sich ihr mit doppeltem Eifer. So vergingen unbemerkt – wenn auch mit »R;ckf;llen«, die zum Beispiel darin bestanden, da; er einmal beinahe einen Besuch bei der F;rstin abstattete – zwei und drei Monate, und Aratow war wieder der alte. Aber tief unter der Oberfl;che des Lebens regte sich etwas Dunkles und Schweres, das ihn auf allen Wegen begleitete. So schwimmt ein gro;er, eben am Angelhaken h;ngengebliebener, aber noch nicht aus dem Wasser gezogener Fisch am tiefen Grunde des Flusses unter dem Kahn, in dem der Fischer mit der festen Angelschnur in der Hand sitzt. Eines Tages aber stie; Aratow beim Lesen einer nicht mehr neuen Nummer der »Moskauer Nachrichten« auf folgende Notiz: »Mit tiefstem Bedauern«, schrieb irgendein Mitarbeiter aus Kasan, »tragen wir in unserer Theaterchronik die Nachricht vom pl;tzlichen Hinscheiden unserer begabten Schauspielerin Klara Militsch ein, die w;hrend ihres kurzen Engagements zum Liebling unseres recht w;hlerischen Publikums geworden ist. Unsere Trauer ist um so gr;;er, als Fr;ulein Militsch ihrem jungen, so vielversprechenden Leben mit Gift ein freiwilliges Ende gemacht hat. Der Fall ist um so schrecklicher, als die K;nstlerin das Gift im Theater selbst eingenommen hat. Kaum hatte man sie in ihre Wohnung gebracht, als sie zum allgemeinen Bedauern den Geist aufgab. Es wird behauptet, da; es eine unerwiderte Liebe war, die sie in den Tod getrieben hat.« Aratow legte die Zeitungsnummer ganz langsam wieder auf den Tisch. #196;u;erlich schien er ruhig, aber etwas hatte ihm pl;tzlich einen Sto; vor die Brust und vor den Kopf versetzt und sich dann langsam durch alle seine Glieder verbreitet. Er stand auf, blieb eine Weile auf einem Fleck stehen, setzte sich wieder hin und las die Zeitungsnotiz noch einmal. Dann stand er wieder auf, legte sich aufs Bett, verschr;nkte die H;nde im Nacken und starrte, wie benebelt, lange auf die Wand. Die Wand flo; allm;hlich auseinander und verschwand – und er sah den Boulevard unter dem grauen Himmel und sie im schwarzen Umhang – dann sah er sie auf dem Podium und sich selbst an ihrer Seite. Das, was ihn im ersten Augenblick so stark vor die Brust gesto;en hatte, stieg jetzt allm;hlich zur Kehle hinauf. Er wollte husten, er wollte jemand rufen, aber seine Stimme versagte, und aus seinen Augen flossen zu seinem eigenen Erstaunen unaufhaltsam die Tr;nen –; Was hatte diese Tr;nen hervorgerufen? Mitleid? Reue? Oder hatten seine Nerven der pl;tzlichen Ersch;tterung einfach nicht standhalten k;nnen? Sie hatte ihm doch nichts bedeutet. Oder doch? Vielleicht ist das Ganze gar nicht wahr? ging es ihm pl;tzlich durch den Sinn. Ich mu; mich erkundigen. Doch bei wem? Bei der F;rstin? Nein, bei Kupfer –; bei Kupfer? Es hei;t ja, da; er gar nicht in Moskau ist? Es ist ganz gleich! Zuerst mu; ich zu ihm! Mit diesen Gedanken besch;ftigt, zog sich Aratow schnell an, nahm eine Droschke und fuhr zu Kupfer. IX Er hoffte gar nicht, ihn zu treffen, traf ihn aber doch. Kupfer war tats;chlich einige Zeit verreist gewesen, aber schon seit acht Tagen zur;ckgekehrt und hatte sogar die Absicht gehabt, Aratow aufzusuchen. Er empfing ihn wie immer freundlich und begann ihm etwas zu erkl;ren. Aratow unterbrach ihn aber ungeduldig mit der Frage: »Hast du es gelesen? Ist es wahr?« »Was ist wahr?« fragte Kupfer verdutzt. »Das von Klara Militsch?« Kupfers Gesicht dr;ckte Bedauern aus. »Ja, mein Lieber, es ist wahr: Sie hat sich vergiftet! Wie schrecklich!« »Hast du es auch in der Zeitung gelesen?« fragte Aratow nach einer Pause. »Oder warst du vielleicht selbst in Kasan?« »Ich war in Kasan. Die F;rstin und ich hatten sie hingebracht. Sie ging dort zur B;hne und hatte gro;en Erfolg. Ich war aber noch vor der Katastrophe abgereist –; Ich war in Jaroslawl.« »In Jaroslawl?« »Ja. Ich hatte die F;rstin dorthin begleitet. Sie hat sich jetzt in Jaroslawl niedergelassen.« »Du hast aber doch zuverl;ssige Nachrichten?« »Die zuverl;ssigsten, aus erster Hand! Ich habe ja in Kasan ihre Familie kennengelernt. Aber mir scheint, mein Lieber, da; dich diese Nachricht sehr aufgeregt hat? Und doch glaube ich, Klara h;tte dir damals gar nicht gefallen –; Mit Unrecht! Sie war ein herrliches M;dchen, aber eigensinnig! Ein Tollkopf! Ihr Tod hat mir gro;en Schmerz bereitet!« Aratow sagte kein Wort und lie; sich in einen Stuhl sinken. Etwas sp;ter bat er Kupfer, ihm zu erz;hlen. »Was denn?« fragte Kupfer. »Ja, alles –;« antwortete Aratow unsicher. »Zum Beispiel von ihrer Familie –; und vom ;brigen. Alles, was du wei;t!« »Interessiert es dich denn? Gerne!« Und Kupfer, dem man den Schmerz um Klara gar nicht ansehen konnte, begann zu erz;hlen. Aratow erfuhr von ihm, da; Klara Militsch mit ihrem richtigen Namen Katerina Milowidow hie;; da; ihr verstorbener Vater etatsm;;iger Zeichenlehrer zu Kasan gewesen war, schlechte Portr;ts und Bilder gemalt und im Rufe eines Trunkenbolds und Haustyrannen gestanden hatte; dabei sei er ein gebildeter Mensch gewesen! (Kupfer l;chelte selbstzufrieden ;ber das von ihm eben erfundene Wortspiel.) Da; dieser Vater eine Witwe und eine Tochter hinterlassen hatte: Die erstere sei vom Kaufmannsstand, ein furchtbar dummes Frauenzimmer, wie einer Kom;die Ostrowskijs entnommen, die Tochter aber, viel ;lter als Klara und ihr nicht im geringsten ;hnlich, ein sehr kluges, doch etwas gar zu ekstatisches, krankes, wunderbares und au;erordentlich gebildetes M;dchen. Da; die beiden – die Witwe und die Tochter – in recht anst;ndigen Verh;ltnissen in einem h;bschen H;uschen, das aus dem Erl;s f;r jene schlechten Bilder gekauft worden ist, leben; da; Klara oder Katja (nenne sie, wie du willst) schon als Kind erstaunliche Begabung gezeigt, sich aber durch einen ungest;men, launischen Charakter ausgezeichnet und sich ewig mit dem Vater herumgeschlagen habe; da sie eine angeborene Begabung f;rs Theater gehabt habe, sei sie in ihrem sechzehnten Lebensjahr mit einer Schauspielerin aus dem Elternhause durchgebrannt. »Mit einem Schauspieler?« unterbrach ihn Aratow. »Nein, nicht mit einem Schauspieler, sondern mit einer Schauspielerin, an der sie sehr hing –; Diese Schauspielerin wurde von einem reichen, sehr alten Herrn protegiert, der sie nur aus dem Grunde nicht heiratete, weil er schon anderweitig verheiratet war. Ich glaube ;brigens, da; auch die Schauspielerin einen Mann hatte.« Kupfer teilte Aratow ferner mit, da; Klara schon vor ihrem Auftreten in Moskau auf verschiedenen Provinzb;hnen gespielt und gesungen hatte; da; sie, nachdem sie ihre Freundin, die Schauspielerin, verloren (ihr M;zen war entweder gestorben oder hatte sich mit seiner Frau vers;hnt – Kupfer wu;te es nicht mehr genau), mit der F;rstin, dieser Frau mit dem goldenen Herzen, bekannt geworden war, »die du, mein Freund Jakow Andrejitsch, nicht nach Geb;hr zu sch;tzen wu;test«; da; sie schlie;lich ein ihr angebotenes Engagement nach Kasan angenommen, obwohl sie vorher behauptet hatte, Moskau niemals verlassen zu wollen. »Wie die Kasaner sie liebgewonnen haben, ist einfach nicht zu sagen! Bei jeder Vorstellung Blumen und Geschenke! Blumen und Geschenke! Ein Getreideh;ndler, der reichste Mann im Gouvernement, hat ihr sogar einmal ein goldenes Tintenfa; ;berreicht!« – Kupfer erz;hlte das alles sehr lebhaft, ohne ;brigens besondere Empfindsamkeit zu zeigen und seine Rede immer mit Fragen wie: »Warum interessiert dich das?« »Was brauchst du das zu wissen?« unterbrechend, w;hrend Aratow ihm mit verzehrender Spannung zuh;rte und immer mehr Einzelheiten forderte. Als Kupfer endlich alles, was er wu;te, berichtet hatte, verstummte er und belohnte sich f;r seine M;he mit einer Zigarre. »Und warum hat sie sich vergiftet?« fragte Aratow. »In der Zeitung hie; es –;« Kupfer warf beide Arme empor. »Ja, das kann ich wirklich nicht sagen. Ich wei; es nicht. Was in der Zeitung steht, ist Unsinn. Klaras Lebenswandel war tadellos –; sie hatte gar keine Liebesaff;ren –; Wie k;me sie auch dazu mit ihrem Stolz?! Stolz war sie wie der Satan und unzug;nglich! Ein Tollkopf! Hart wie Stein! Du kannst es mir glauben: Ich kannte sie doch gewi; gut, habe aber niemals Tr;nen in ihren Augen gesehen!« Ich habe aber welche gesehen, dachte Aratow. »Aber in der letzten Zeit«, fuhr Kupfer fort, »hatte ich an ihr eine gro;e Ver;nderung wahrgenommen: Sie war auf einmal so tr;bsinnig und schweigsam geworden, stundenlang konnte man von ihr kein Wort zu h;ren bekommen. Wie oft habe ich sie gefragt: ›Hat Sie vielleicht jemand beleidigt, Katerina Ssemjonowna?‹ Ich kannte ja ihren Charakter: Sie konnte keine Beleidigung ertragen! Sie schweigt aber, und es ist aus ihr nichts herauszubekommen. Selbst die Erfolge auf der B;hne machten ihr keine Freude mehr; die Blumen regnen auf sie nur so nieder, und sie l;chelt nicht einmal! Das goldene Tintenfa; sah sie nur einmal an und stellte es gleich weg. Sie beklagte sich, da; noch niemand f;r sie die richtige Rolle, wie sie sie verstehe, geschrieben h;tte. Das Singen gab sie aber ganz auf. Ich mu; es dir beichten, mein Lieber! Ich hatte ihr damals erz;hlt, da; du an ihrem Gesang die Schule vermi;test. Und doch ist es ganz unbegreiflich, warum sie sich vergiftet hat! Und wie sie sich vergiftet hat!« »In welcher Rolle hatte sie den gr;;ten Erfolg?« Aratow wollte eigentlich fragen, in welcher Rolle sie zum letzten Male aufgetreten war, fragte aber aus irgendeinem Grunde etwas ganz anderes. »Wenn ich nicht irre, in Ostrowskijs ›Grunja‹. Ich mu; es aber noch einmal sagen: gar keine Liebesaff;ren! Urteile doch selbst. Sie lebte im Hause ihrer Mutter –; Du kennst wohl solche Kaufmannsh;user: In jeder Ecke h;ngt ein Heiligenbild mit einem brennenden L;mpchen davor, die Luft ist zum Sterben dumpf, ein widerlicher, s;uerlicher Geruch in allen Zimmern, im Salon stehen l;ngs der W;nde St;hle und sonst keine M;bel, und auf allen Fensterb;nken Geranien; und wenn ein Gast ins Haus kommt, f;ngt die Hausfrau zu st;hnen an, wie wenn ein Feind sie ;berfallen h;tte. Wie kann man da an irgendwelche Liebesaff;ren denken? Es kam vor, da; man selbst mich nicht einlie;. Ihre Dienstmagd, ein kr;ftiges Frauenzimmer in rotem Sarafan mit H;ngebr;sten, tritt mir im Vorzimmer in den Weg und knurrt: ›Wo wollen Sie hin?‹ – Nein, ich kann unm;glich begreifen, warum sie sich vergiftet hat. Das Leben machte ihr offenbar keine Freude mehr!« Kupfer schlo; mit dieser philosophischen Betrachtung seinen Bericht. Aratow sa; mit gesenktem Kopf. »Kannst du mir vielleicht die Adresse des Hauses in Kasan geben?« sagte er nach einer Pause. »Gewi;, was brauchst du sie? Willst du vielleicht hinschreiben?« »Vielleicht.« »Wie du willst. Die Alte wird dir aber nicht antworten, weil sie weder zu lesen noch zu schreiben versteht. H;chstens die Schwester –; Ja, die Schwester ist ein ungew;hnlich kluges M;dchen! Aber ich mu; doch ;ber dich staunen, mein Bester: fr;her diese Gleichg;ltigkeit, und jetzt dieses Interesse! Das kommt alles von deiner einsamen Lebensweise!« Aratow entgegnete nichts auf diese Bemerkung, schrieb sich die Kasaner Adresse auf und ging. Als er vorhin zu Kupfer fuhr, dr;ckte sein Gesicht Erregung, Erstaunen und Erwartung aus. Jetzt ging er mit gleichm;;igen Schritten, die Augen gesenkt, den Hut tief in die Stirn gedr;ckt, nach Hause. Fast jeder Vorbeigehende sah ihm mit forschenden Blicken nach. Er gab aber auf die Vorbeigehenden nicht acht: ganz anders als damals auf dem Boulevard. »Unselige Klara! Wahnsinnige Klara!« klang es in seiner Seele. X Den folgenden Tag f;hlte sich Aratow verh;ltnism;;ig ruhig. Er konnte sogar seinen gewohnten Besch;ftigungen nachgehen. Dabei dachte er aber unausgesetzt an Klara und an alles, was Kupfer ihm gestern gesagt hatte. Seine Gedanken waren allerdings recht friedlicher Natur. Es schien ihm, da; jenes seltsame M;dchen ihn nur vom psychologischen Standpunkt aus interessiere, wie eine Art R;tsel, dessen L;sung wohl einiges Kopfzerbrechen wert sei. Sie ist mit einer ausgehaltenen Schauspielerin durchgebrannt, dachte er sich, hat sich in den Schutz der F;rstin begeben, bei der sie wohl auch wohnte – und soll keine Liebesaff;ren gehabt haben? Das klingt zu unwahrscheinlich! Kupfer sagt zwar, sie sei zu stolz gewesen. Erstens wissen wir aber (Aratow meinte: Wir haben es in B;chern gelesen)... wir wissen, da; Stolz sich wohl mit Leichtsinn vereinbaren l;;t; zweitens, wie brachte sie es bei ihrem Stolz fertig, einen Menschen zum Stelldichein einzuladen, der sie mit Verachtung behandeln k;nnte?... Und sie auch tats;chlich so behandelt hat, und das auf einem ;ffentlichen Boulevard! Aratow fiel wieder die Szene auf dem Boulevard ein, und er fragte sich, ob er sie tats;chlich mit Verachtung behandelt h;tte. Nein! sagte er sich zuletzt. Es war ein anderes Gef;hl. Ein Nichtverstehen... vielleicht auch Mi;trauen! Unselige Klara! klang es ihm wieder im Kopfe. Ja, sie ist wohl unselig, das ist der richtige Ausdruck. – Und wenn dem so ist, so war ich ungerecht. Sie hatte recht, als sie sagte, ich h;tte sie nicht verstanden. Schade! Ein vielleicht ganz au;erordentliches Gesch;pf ging so nahe an mir vorbei, und ich machte keinen Gebrauch davon und stie; sie zur;ck... Nun, das macht doch nichts! Das ganze Leben liegt noch vor mir. Vielleicht stehen mir noch ganz andere Begegnungen bevor! Warum hat sie aber gerade mich erw;hlt? Er warf einen Blick auf den Spiegel, an dem er eben vorbeiging. Was ist denn an mir Besonderes? Bin ich denn besonders h;bsch? Ein Gesicht wie jedes andere... ;brigens war auch sie keine Sch;nheit. Keine Sch;nheit, aber welch ein ausdrucksvolles Gesicht! Unbeweglich, und doch so ausdrucksvoll! So ein Gesicht habe ich doch noch nie gesehen. Sie hat auch Talent – sie hatte es vielmehr. Ein wildes, unentwickeltes, sogar rohes, aber doch ein zweifelloses Talent... Auch darin war ich ungerecht gegen sie. Aratow dachte an jenen literarisch-musikalischen Nachmittag zur;ck und merkte, da; er sich eines jeden von ihr gesprochenen oder gesungenen Wortes, jeder Ton;nderung mit au;erordentlicher Sch;rfe erinnerte... Das w;re doch unm;glich, wenn sie gar kein Talent gehabt h;tte. Und jetzt ruht das alles im Grabe, in das sie sich selbst gest;rzt hat. Ich bin dabei unbeteiligt. Mich trifft keine Schuld! Es w;re sogar l;cherlich zu glauben, da; ich daran irgendwie schuldig sei. Aratow ging wieder der Gedanke durch den Kopf, da; sein Benehmen beim Stelldichein unbedingt habe entt;uschen m;ssen. Darum hatte sie ja auch beim Abschiednehmen so grausam aufgelacht. Wo sind auch die Beweise daf;r, da; sie sich aus Liebesgram vergiftet hat? Diese Zeitungskorrespondenten schreiben ja jeden Selbstmord ungl;cklicher Liebe zu! Solchen Naturen wie Klara erscheint das Leben oft unertr;glich und langweilig. Ja, langweilig. Kupfer hat recht: Das Leben machte ihr einfach keine Freude mehr. Trotz der Erfolge und Ovationen? Aratow wurde nachdenklich. Die psychologische Analyse, der er sich jetzt hingab, machte ihm sogar Vergn;gen. Er ahnte selbst nicht, welche Bedeutung f;r ihn, der bisher noch niemals mit Frauen in Ber;hrung gekommen war, diese gespannte Untersuchung einer weiblichen Seele hatte. Folglich fuhr er in seinen Betrachtungen fort, folglich gab ihr die Kunst keine Befriedigung und vermochte die Leere ihres Lebens nicht zu f;llen. Die echten K;nstler leben ja nur f;r die Kunst und f;r das Theater. Alles ;brige erbla;t vor dem, was sie f;r ihren Beruf halten... Sie war eben Dilettantin! Aratow wurde wieder nachdenklich. Nein, das Wort »Dilettantin« pa;te so wenig zu ihrem Gesicht, zum Ausdruck ihrer Augen. Vor ihm schwebte wieder das Bild Klaras mit den auf ihn gerichteten tr;nenerf;llten Augen und den zusammengepre;ten, an die Lippen gedr;ckten H;nden. »Ach, nicht doch, nicht doch!« fl;sterte er: »Wozu?« So verging der ganze Tag. Beim Mittagessen unterhielt er sich viel mit Tante Platoscha und fragte sie nach den alten Zeiten aus, an die sie sich ;brigens schlecht erinnerte und von denen sie kaum etwas sagen konnte, da sie ;berhaupt wenig redegewandt war und in ihrem ganzen Leben au;er ihrem Jascha kaum etwas bemerkt hatte. Sie freute sich nur dar;ber, da; er sich pl;tzlich so freundlich und liebensw;rdig zeigte. Gegen Abend war Aratow schon so ruhig, da; er mit der Tante sogar einige Partien Karten spielte. So verging der Tag. Aber die Nacht... XI Die Nacht begann recht gut; er schlief schnell ein, und als die Tante zu ihm auf den Fu;spitzen hereinkam, um den Schlafenden, wie sie es jede Nacht tat, dreimal zu bekreuzen, atmete er ruhig wie ein Kind. Aber kurz vor Tagesanbruch hatte er einen Traum. Es tr;umte ihm: Er ging ;ber eine leere steinige Steppe unter einem niederen Himmel. Zwischen den Steinen wand sich ein Pfad; er ging diesen Pfad entlang. Pl;tzlich erhob sich vor ihm etwas wie ein leichtes W;lkchen. Er sah es aufmerksam an; das W;lkchen verwandelte sich in ein weibliches Wesen in wei;em Kleid mit hellem G;rtel um die H;ften. Sie wollte von ihm weglaufen. Er konnte weder ihr Gesicht noch ihre Haare sehen: Ein langer Schleier verdeckte sie. Er wollte sie unbedingt einholen und ihr in die Augen blicken. Wie sehr er auch seine Schritte beschleunigte, sie war schneller als er. Auf dem Pfad lag ein Stein, breit und flach wie eine Grabplatte. Der Stein versperrte ihr den Weg. Sie blieb stehen. Aratow holte sie ein. Sie wandte sich zu ihm um, er konnte aber ihre Augen auch jetzt nicht sehen – sie waren geschlossen. Ihr Gesicht war wei; wie Schnee, die H;nde hingen unbeweglich herab. Sie glich einer Statue. Langsam, ohne auch nur ein Glied zu biegen, beugt sie sich zur;ck und l;;t sich auf die Steinplatte sinken... Aratow liegt im Nu an ihrer Seite, ausgestreckt wie eine Grabfigur, und seine H;nde sind wie bei einem Toten gefaltet. Pl;tzlich erhob sie sich und entfernte sich von ihm. Auch Aratow wollte aufstehen, konnte sich aber weder r;hren noch die H;nde heben. Er konnte ihr nur voller Verzweiflung nachblicken. Sie wandte sich pl;tzlich um, und er erblickte helle, lebendige Augen in einem lebendigen, doch unbekannten Gesicht. Sie lachte, sie winkte ihm mit der Hand, und er konnte sich noch immer nicht r;hren. Sie lachte auf und entfernte sich von ihm, lustig mit dem Kopfe nickend, auf dem pl;tzlich ein Kranz aus kleinen roten Rosen aufleuchtete. Aratow wollte aufschreien, wollte diesen schrecklichen Alpdruck verscheuchen. Pl;tzlich verdunkelte sich alles, und sie kehrte zu ihm zur;ck. Es war nicht mehr jene unbekannte Statue: Es war Klara. Sie blieb vor ihm stehen, kreuzte die Arme und sah ihn streng und unverwandt an. Ihre Lippen waren zusammengepre;t, Aratow glaubte aber die Worte zu h;ren: »Wenn du wissen willst, wer ich bin, so reise hin!« »Wohin?« fragte er. »Dorthin!« antwortete die klagende Stimme »Dorthin!« Aratow erwachte. Er setzte sich im Bett auf, z;ndete die Kerze auf dem Nachttischchen an, stand aber nicht auf, sondern sa; lange, ganz kalt vor Entsetzen, da und lie; die Blicke langsam um sich schweifen. Es war ihm, als ob mit ihm w;hrend der Nacht etwas vorgefallen w;re, als ob sich etwas in ihm festgesetzt, sich seiner bem;chtigt h;tte. »Ist es denn m;glich?« fl;sterte er wie geistesabwesend. »Gibt es denn eine solche Gewalt?« Er konnte nicht l;nger im Bett bleiben. Er zog sich leise an und ging bis zum Morgen in seinem Zimmer auf und ab. Doch seltsam: An Klara dachte er keinen Augenblick mehr; er dachte nicht mehr an sie, weil er beschlossen hatte, am n;chsten Tag nach Kasan zu fahren. Er dachte nur an diese Reise, wie sie zu machen sei und was er mitnehmen sollte; wie er dort alles N;tige aufsuchen und erfahren und sich dann beruhigen werde. Wenn du nicht hinf;hrst, sagte er sich, so kannst du noch verr;ckt werden! Er f;rchtete es wirklich; er f;rchtete f;r seine Nerven. Er war ;berzeugt, da; aller Zauber sich wie dieser n;chtliche Alpdruck verfl;chtigen w;rde, sobald er alles mit seinen eigenen Augen s;he. Diese Reise wird ja h;chstens eine Woche in Anspruch nehmen, dachte er. Was ist eine Woche? Anders werde ich es aber nicht los. Die aufgehende Sonne erhellte sein Zimmer; das Tageslicht vermochte aber nicht, die auf ihm lastenden Schatten der Nacht zu verscheuchen und seinen Entschlu; zu ;ndern. Als Aratow Tante Platoscha seinen Entschlu; mitteilte, traf sie beinahe der Schlag. Ihre Knie knickten ein, und sie hockte sich hin. »Wie, nach Kasan? Wozu nach Kasan?« fl;sterte sie, ihn mit ihren halbblinden Augen anglotzend. Ihr Erstaunen w;re wohl kaum gr;;er, wenn sie h;ren w;rde, da; ihr Jascha die B;ckerin aus dem Nachbarhaus heiraten oder nach Amerika gehen wolle. »Willst du f;r lange nach Kasan?« »Ich komme nach einer Woche zur;ck«, antwortete Aratow, sich halb nach der Tante umwendend, die noch immer auf dem Boden hockte. Piatonida Iwanowna wollte noch etwas einwenden, aber da kam etwas ganz Unerwartetes, etwas, das ihr ganz ungewohnt war: Aratow schrie sie an: »Ich bin kein Kind mehr!« Er war totenbla; geworden, seine Lippen zitterten, und seine Augen brannten geh;ssig. »Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, ich wei;, was ich tue, ich darf alles tun, was mir beliebt. Ich werde niemand gestatten... Geben Sie mir Geld f;r die Reise, machen Sie mir den Koffer mit der W;sche und den Kleidern fertig – und qu;len Sie mich nicht! Nach einer Woche komme ich zur;ck, Platoscha«, f;gte er etwas milder hinzu. Platoscha erhob sich seufzend und schlich langsam, ohne zu widersprechen, in ihr Zimmer. Jascha hatte ihr gro;e Angst gemacht. »Ich habe keinen Kopf mehr auf dem Nacken«, sagte sie zur K;chin, die ihr half, die Sachen einzupacken, »keinen Kopf, sondern einen Bienenkorb, und ich wei; gar nicht, was f;r Bienen darin summen. Nach Kasan will er fahren, meine Liebe, nach Ka-san!« Die K;chin, die gestern bemerkt hatte, wie der Hausknecht sich lange mit einem Schutzmann unterhalten hatte, wollte es anfangs ihrer Herrin melden, entschlo; sich aber doch nicht dazu. Sie dachte sich nur: Nach Kasan? Da; die Reise nur nicht weiter geht! Platonida Iwanowna war so fassungslos, da; sie es sogar unterlie;, ihr gewohntes Gebet zu sprechen. »Bei einem solchen Ungl;ck kann ja auch der liebe Gott nicht helfen!« Aratow reiste am gleichen Tage nach Kasan. XII Kaum war er in diese Stadt gekommen und in einem Gasthaus abgestiegen, als er sich auch gleich auf die Suche nach dem Hause der Witwe Milowidow machte. W;hrend der ganzen Reise befand er sich in einer seltsamen Erstarrung, was ihn ;brigens nicht hinderte, alles richtig zu machen: in Nischnij-Nowgorod die Eisenbahn mit dem Dampfschiff zu vertauschen, auf den Stationen zu essen und so weiter. Er war noch immer ;berzeugt, da; dort sich alles l;sen w;rde; darum hielt er alle Erinnerungen und Betrachtungen von sich fern und begn;gte sich mit den Vorbereitungen zum »Speech«, in dem er den Angeh;rigen Klaras seine Beweggr;nde klarmachen w;rde. Endlich war er am Ziel und lie; sich anmelden. Man lie; ihn ein, wenn auch mit einiger Best;rzung und Angst. Das Haus der Witwe Milowidow war tats;chlich so, wie Kupfer es beschrieben hatte; auch die Witwe selbst erinnerte an eine der Kaufmannsfrauen Ostrowskijs, obwohl sie eine Beamtenwitwe war: Ihr Mann hatte den Rang eines Kollegien-Assessors gehabt. Aratow entschuldigte sich zun;chst wegen seiner Dreistigkeit und der Seltsamkeit seines Besuchs und hielt dann mit ziemlicher M;he den vorbereiteten »Speech«. Er sprach von seinem Wunsch, alles Wissenswertes ;ber die so jung verstorbene K;nstlerin zu sammeln, und sagte, da; er dabei nicht von m;;iger Neugierde, sondern von tiefer Sympathie f;r ihr Talent, dessen Verehrer (er gebraucht diesen Ausdruck: »Verehrer«) er gewesen sei, geleitet werde; da; es schlie;lich eine S;nde w;re, wenn man das Publikum in Unwissenheit dar;ber lie;e, was es in ihr verloren habe und warum die auf sie gesetzten Hoffnungen nicht in Erf;llung gegangen waren. Frau Milowidow unterbrach ihn nicht; sie verstand wohl kaum, was ihr dieser unbekannte Gast sagte, glotzte ihn erstaunt an und dachte sich nur, da; er ganz harmlos aussehe, anst;ndig gekleidet, also kein Schwindler sei und wohl auch kein Geld erpressen werde. »Sprechen Sie von Katja?« fragte sie, als Aratow fertig war. »Gewi;... von Ihrer Tochter.« »Sind Sie deswegen aus Moskau hergekommen?« »Ja, aus Moskau.« »Nur deswegen?« – »Ja, nur deswegen.« Frau Milowidow fuhr pl;tzlich zusammen. »Sie sind wohl ein Schreiber? Schreiben Sie in den Journalen?« »Nein, ich bin kein Schreiber und habe bisher in den Journalen nicht geschrieben.« Die Witwe neigte den Kopf. Sie konnte gar nichts begreifen. »Sie sind also... aus eigenem Antrieb gekommen?« fragte sie pl;tzlich. Aratow mu;te sich auf eine Antwort besinnen. »Aus Mitgef;hl, aus Verehrung f;r das Talent«, antwortete er schlie;lich. Das Wort »Verehrung« gefiel der Frau Milowidow gut. »Nun, warum auch nicht«, begann sie mit einem Seufzer. »Ich bin zwar ihre Mutter, und mein Schmerz war gro;... Dieses unerwartete Ungl;ck! Ich mu; aber sagen: Sie war immer wild und hat auch auf eine wilde Manier geendet! Diese Schande! Urteilen Sie doch selbst, wie es der Mutter ums Herz ist! Ich mu; schon damit zufrieden sein, da; sie ein christliches Begr;bnis bekam.« Frau Milowidow bekreuzigte sich. »Von Kind auf gehorchte sie keinem Menschen, dann lief sie aus dem Elternhause fort und wurde zuletzt – bedenken Sie nur! – Schauspielerin! Nat;rlich sagte ich mich von ihr nicht los: Ich liebte sie ja und war immerhin ihre Mutter! Sie durfte doch nicht bei fremden Leuten wohnen oder betteln gehen.« Die Witwe vergo; einige Tr;nen. »Und wenn Sie, mein Herr«, begann sie von neuem, die Augen mit dem Ende ihres Tuches abwischend, »wenn Sie wirklich diese Absicht haben und uns keine Unehre antun, sondern, im Gegenteil, Ihre Aufmerksamkeit erweisen wollen – so sprechen Sie mit meiner anderen Tochter. Sie wird Ihnen alles viel besser als ich erz;hlen k;nnen – Annotschka!« rief Frau Milowidow, »Annotschka, komm doch her! Hier ist ein Herr aus Moskau, der mit dir wegen Katja sprechen m;chte!« Im Nebenzimmer klopfte etwas, aber niemand kam zum Vorschein. »Annotschka!« rief die Witwe wieder, »Anna Ssemjonowna! Komm, wenn man dich ruft!« Die T;r ging leise auf, und an der Schwelle erschien ein nicht mehr junges M;dchen, kr;nklich, unsch;n, doch mit sanften, traurigen Augen. Aratow erhob sich bei ihrem Erscheinen und stellte sich, unter Berufung auf seinen Freund Kupfer, vor. »Ach so, Sie kennen Fjodor Fjodorowitsch!« sagte das M;dchen leise und lie; sich lautlos auf einen Stuhl nieder. »Also sprich mit dem Herrn«, sagte Frau Milowidow, sich schwerf;llig von ihrem Platz erhebend, »der Herr hat sich eigens dazu aus Moskau herbem;ht, er will einiges ;ber Katja erfahren. Mich m;ssen Sie aber entschuldigen, mein Herr!« f;gte sie hinzu. »Ich mu; nach der Wirtschaft schauen. Mit Annotschka werden Sie sich gut verst;ndigen, sie wird Ihnen vom Theater erz;hlen... und vom ;brigen. Sie ist klug und gebildet: kann franz;sisch und liest B;cher, steht ihrer seligen Schwester in nichts nach. Sie hat sie ja sozusagen erzogen: Sie war die ;ltere und gab sich mit ihr ab.« Frau Milowidow zog sich zur;ck. Als Aratow mit Anna Ssemjonowna allein geblieben war, wiederholte er seinen Speech. Da er aber gleich auf den ersten Blick merkte, da; er es mit einem wirklich gebildeten Wesen und nicht mit einer gew;hnlichen Kaufmannstochter zu tun hatte, sprach er etwas weitl;ufiger als vorhin mit der Mutter und gebrauchte auch andere Ausdr;cke. Zum Schlu; wurde er aufgeregt, err;tete und f;hlte, wie ihm das Herz pochte. Anna h;rte ihm schweigend mit gefalteten H;nden zu; ein trauriges L;cheln wich nicht von ihrem Gesicht – ein bitteres, noch nicht verheiltes Weh sprach aus diesem L;cheln. »Haben Sie meine Schwester gekannt?« fragte sie Aratow. »Nein, ich habe sie eigentlich nicht gekannt«, antwortete er. »Ich habe sie wohl einmal gesehen und geh;rt. Es gen;gte aber, Ihre Schwester einmal zu sehen und zu h;ren...« »Wollen Sie ihre Biographie schreiben?« fragte Anna. Aratow hatte diese Frage nicht erwartet. Er antwortete aber sofort: »Warum auch nicht? Vor allem m;chte ich das Publikum unterrichten...« Anna unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Wozu das? Das Publikum hat ihr viel Leid zugef;gt; Katja fing ja erst zu leben an. Doch wenn Sie selbst (Anna blickte ihn an und l;chelte wieder traurig, doch etwas freundlicher. Es war, wie wenn sie sich sagte: Ja, du fl;;t mir wohl Vertrauen ein!), wenn Sie selbst soviel Mitgef;hl f;r sie haben, so wollen Sie g;tigst heute nachmittag nach dem Essen wiederkommen. Jetzt kann ich nicht... so pl;tzlich. Ich mu; mich sammeln. Ich werde es versuchen. Ach, ich habe sie zu sehr geliebt!« Anna wandte sich ab; sie schien dem Weinen nahe. Aratow erhob sich schnell von seinem Stuhl, dankte f;r das Anerbieten, versprach unbedingt, ja, unbedingt zu kommen, und ging, ganz im Banne ihrer leisen Stimme und der sanften, traurigen Augen – und er verzehrte sich vor Sehnsucht nach dem Wiedersehen. XIII Aratow kam am Nachmittag zu den Milowidows und unterhielt sich volle drei Stunden mit Anna Ssemjonowna. Frau Milowidow pflegte sich jeden Nachmittag um zwei hinzulegen und bis zum Abendtee, der um sieben Uhr eingenommen wurde, »auszuruhen«. Die Unterhaltung Aratows mit Klaras Schwester war eigentlich keine Unterhaltung: Sie sprach fast die ganze Zeit allein, anfangs etwas unsicher und verlegen, dann aber mit gro;em Feuer. Sie verg;tterte offenbar ihre Schwester. Das Vertrauen, das ihr Aratow einfl;;te, wurde immer st;rker; sie gab jede Zur;ckhaltung auf und fing sogar zweimal in seiner Gegenwart zu weinen an. Sie hielt ihn f;r w;rdig, ihre Offenherzigkeiten und Herzenserg;sse hinzunehmen. In ihrem eigenen freudlosen Leben hatte es nichts dergleichen gegeben! Er aber sog jedes ihrer Worte gierig ein und erfuhr folgendes: Vieles nur aus Andeutungen. Vieles erg;nzte er selbst. Klara war in ihrer Kindheit zweifellos ein h;chst unangenehmes Gesch;pf gewesen; auch als junges M;dchen war sie schwierig: eigensinnig, aufbrausend und selbsts;chtig. Sie vertrug sich am allerwenigsten mit dem Vater, den sie wegen seiner Trunksucht und Talentlosigkeit verachtete. Sie zeigte schon sehr fr;h Veranlagung f;r Musik; der Vater aber tat nichts f;r die Entwicklung dieses Talents, da er nur die Malerei allein, in der er zwar wenig erreicht hatte, die aber ihn und seine Familie ern;hrte, f;r echte Kunst hielt. An ihrer Mutter hing sie mit einer etwas l;ssigen Liebe, wie ein Kind oft an seiner W;rterin h;ngt; die Schwester verg;tterte sie, obwohl sie sich mit ihr oft herumschlug und sie bi;. Dann wieder kniete sie vor ihr nieder und k;;te die gebissenen Stellen. Sie war ganz Feuer, ganz Leidenschaft, ganz Widerspruch: rachs;chtig und gutm;tig, gro;m;tig und nachtragend; sie glaubte an das Schicksal und glaubte nicht an Gott (Anna fl;sterte diese Worte mit Entsetzen); sie liebte alles Sch;ne, k;mmerte sich aber nicht um ihre eigene Sch;nheit und kleidete sich nachl;ssig; sie ;rgerte sich, wenn junge Leute ihr den Hof machten, las aber in den B;chern nur solche Seiten, die von Liebe handelten; sie wollte niemand gefallen, mochte keine Z;rtlichkeiten, verga; aber keine ihr erwiesene Z;rtlichkeit, aber auch keine Beleidigung; sie f;rchtete den Tod und t;tete sich selbst! Manchmal sagte sie: »Den, den ich will, werde ich nie finden, einen andern will ich aber nicht!« »Und wenn du ihn doch findest?« fragte Anna. »Wenn ich ihn finde, so nehme ich ihn mir.« »Und wenn er sich nicht hergibt?« »Dann... dann nehme ich mir das Leben. Dann tauge ich also nicht.« Klaras Vater (der seine Frau zuweilen im Rausche fragte: »Von wem hast du diese schwarze Hexe? Von mir ist sie sicher nicht!«) wollte sie m;glichst schnell loswerden und verlobte sie mit einem reichen jungen, furchtbar dummen Kaufmann, einem von den »Gebildeten«. Zwei Wochen vor der Hochzeit (sie war erst sechzehn) ging sie mit gekreuzten Armen, mit den Fingern auf den Ellenbogen spielend (das war ihre liebste Stellung), auf ihren Br;utigam zu und versetzte ihm pl;tzlich mit ihrer gro;en kr;ftigen Hand einen Schlag auf seine rosige Wange! Er sprang auf und ri; nur das Maul auf – es ist zu bemerken, da; er ma;los in sie verliebt war. Er fragte sie: »Wof;r?« Sie lachte nur auf und ging. »Ich war im gleichen Zimmer«, erz;hlte Anna, »und war Zeugin. Ich lief ihr nach und fragte: ›Katja, was f;llt dir ein?‹ Sie aber antwortete: ›Wenn er ein Mann w;re, so h;tte er mich verpr;gelt, er ist aber eine nasse Henne! Und er fragt noch: Wof;r? Wenn du mich liebst und mich nicht strafen willst, so mu;t du eben dulden und darfst nicht fragen, wof;r! Er kriegt mich nicht, solange er lebt!‹ Sie nahm ihn auch wirklich nicht. Bald darauf lernte sie jene Schauspielerin kennen und verlie; unser Haus. M;tterchen weinte, Vater aber sagte: ›Die widerspenstige Ziege mu; aus der Herde hinaus!‹ Und er tat nichts, um sie zur R;ckkehr zu bewegen. Der Vater verstand Klara nicht. Am Tag vor ihrer Flucht erw;rgte sie mich beinahe in ihren Armen«, f;gte Anna hinzu, »und sagte dabei immer: ›Ich kann nicht anders! Das Herz bricht mir entzwei, ich kann aber nicht anders! Zu eng ist mir euer K;fig... meine Fl;gel finden keinen Platz darin! Niemand kann seinem Schicksal entgehen.‹ « »Sp;ter sahen wir uns nur sehr selten«, bemerkte Anna. »Als der Vater starb, kam sie f;r zwei Tage nach Hause, wollte nichts von der Erbschaft nehmen und verschwand wieder. Es war ihr schwer, bei uns zu leben. Ich sah es. Dann kam sie als Schauspielerin nach Kasan.« Aratow begann Anna ;ber das Theater auszufragen, ;ber die Rollen, in denen Klara auftrat, und ;ber ihre Erfolge. Anna antwortete ausf;hrlich mit dem gleichen traurigen Ausdruck, wenn auch mit gro;em Feuer. Sie zeigte Aratow sogar eine Photographie, auf der Klara in einer ihrer Rollen dargestellt war. Auf dem Bild blickte sie zur Seite, wie wenn sie sich von den Zuschauern abwenden wollte; der mit einem Band durchflochtene dicke Zopf fiel wie eine Schlange auf den entbl;;ten Arm herab. Aratow betrachtete die Photographie lange, fand sie ;hnlich, erkundigte sich, ob Klara auch in Rezitationsabenden aufgetreten sei, und erfuhr von Anna, da; sie nur in B;hnenrollen aufgetreten war, weil sie die Aufregung des Theaters und der B;hne brauchte... Aber eine andere Frage brannte ihm auf den Lippen. »Anna Ssemjonowna!« rief er schlie;lich aus, nicht laut, doch mit besonderer Kraft: »Sagen Sie mir, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, warum sie... warum sie sich zu dieser schrecklichen Tat entschlossen hat!« Anna senkte die Augen. »Ich wei; es nicht!« sagte sie nach einer Weile. »Bei Gott, ich wei; es nicht!« fuhr sie in fieberhafter Hast fort, als sie sah, da; Aratow ungl;ubig die Arme spreizte. »Vom Tag ihrer Ankunft an war sie nachdenklich und finster. Sie hatte in Moskau zweifellos irgend etwas erlebt, was ich unm;glich erraten kann. Aber an jenem verh;ngnisvollen Tag schien sie, ich will nicht sagen, lustiger, doch ruhiger als sonst. Ich hatte sogar keine Vorahnung«, f;gte Anna mit bitterem L;cheln hinzu, als ob sie sich etwas vorzuwerfen h;tte. »Sehen Sie«, fing sie wieder an, »es war ihr wohl schon vom Schicksal beschieden, ungl;cklich zu sein. Von ihrer fr;hesten Kindheit an war sie davon ;berzeugt. Zuweilen st;tzte sie den Kopf in die Hand und sagte nachdenklich: ›Ich werde nicht lange leben!‹ Sie hatte Vorahnungen. Denken Sie sich nur: Sie sah schon vorher im Traume und manchmal auch im Wachen, was ihr bevorstand. ›Wenn ich nicht so leben kann, wie ich will, so will ich gar nicht leben‹, pflegte sie oft zu sagen. ›Unser Leben ist ja in unserer Hand!‹ Und sie bewies es auch!« Anna bedeckte das Gesicht mit den H;nden und verstummte. »Anna Ssemjonowna«, begann Aratow nach einer Pause. »Sie haben vielleicht geh;rt, was in den Zeitungen stand...« »Das von der ungl;cklichen Liebe?« unterbrach ihn Anna, und nahm die H;nde vom Gesicht. »Das ist eine Verleumdung, eine Verleumdung, eine Erfindung! Meine unber;hrte, meine unzug;ngliche Katja... Katja!... Und sie sollte eine ungl;ckliche, eine unerwiderte Liebe haben?! Und ich habe nichts davon gewu;t? Alle, alle verliebten sich in sie und sie... Wen h;tte sie hier auch lieben k;nnen? Wer von allen Menschen war ihrer wert? Wer hatte jenes Ideal der Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Reinheit, ja, vor allem Reinheit, das ihr trotz aller ihrer Fehler immer vorschwebte, erreicht? Wer hat ihre Liebe zur;ckweisen k;nnen, ihre Liebe...« Annas Stimme versagte. Ihre Finger zitterten. Sie war pl;tzlich ;ber und ;ber rot geworden, rot vor Emp;rung, und in diesem Augenblick, in diesem einen Augenblick sah sie der Schwester ;hnlich. Aratow stammelte irgendeine Entschuldigung. »H;ren Sie einmal«, unterbrach ihn Anna wieder. »Ich will, da; Sie an diese Verleumdung nicht glauben, da; Sie sie nach M;glichkeit zerstreuen! Sie wollen ja einen Aufsatz schreiben: Da haben Sie also die Gelegenheit, ihr Andenken zu verteidigen! Darum spreche ich auch mit Ihnen so aufrichtig. H;ren Sie einmal: Katja hat ein Tagebuch hinterlassen.« Aratow zuckte zusammen. »Ein Tagebuch«, fl;sterte er. »Ja, ein Tagebuch, das hei;t nur einige Seiten. Katja mochte das Schreiben nicht und trug monatelang nichts ein; auch ihre Briefe waren kurz. Sie war aber immer aufrichtig und log niemals. Wie sollte sie auch bei ihrem Stolz l;gen! Ich... ich will Ihnen das Tagebuch zeigen. Sie werden sich selbst ;berzeugen, da; darin nicht einmal eine Andeutung von ungl;cklicher Liebe zu finden ist!« Anna holte aus der Schublade hastig ein d;nnes Heftchen von h;chstens zehn Seiten und reichte es Aratow. Er ergriff es mit Gier, erkannte sofort die unregelm;;ige, weitl;ufige Schrift jenes anonymen Briefes und schlug es aufs Geratewohl auf. Sein Blick fiel auf folgende Zeilen: »Moskau. Dienstag, den *. Juni. Ich rezitierte und sang in einer literarischen Matinee. Heute war f;r mich ein bedeutsamer Tag. Er mu; mein Schicksal entscheiden. (Dieser Satz war zweimal unterstrichen.) Ich sah wieder«, hier folgten einige sorgf;ltig durchgestrichene Zeilen. Weiter hie; es: »Nein, nein, nein! Ich mu; wieder von vorne anfangen, wenn nur...« Aratow lie; die Hand mit dem Heft sinken, und sein Kopf fiel langsam auf die Brust herab. »Lesen Sie doch!« rief Anna aus. »Warum lesen Sie nicht? Lesen Sie von Anfang an! Sie sind damit in f;nf Minuten fertig, obwohl das Tagebuch ganze zwei Jahre umfa;t. In Kasan trug sie nichts mehr ein.« Aratow erhob sich langsam von seinem Stuhl und st;rzte vor Anna in die Knie. Sie war vor Erstaunen und Schreck ganz starr. »Geben Sie, geben Sie mir dieses Tagebuch«, begann Aratow mit ersterbender Stimme und hob beide H;nde zu ihr empor. »Geben Sie es mir... auch die Photographie. Sie haben sicher eine andere. Das Tagebuch werde ich Ihnen zur;ckgeben. Ich brauche es, ich brauche es...« In seinem Flehen, in seinen verzerrten Z;gen lag eine solche Verzweiflung; man konnte diesen Ausdruck f;r Ha; oder Schmerz halten. Er litt tats;chlich. Es war, als ob ein unerwartetes Ungl;ck ;ber ihn hereingebrochen w;re und er gereizt um Erbarmen und Hilfe flehte. »Geben Sie es mir!« sagte er wieder. »Waren Sie vielleicht in meine Schwester verliebt?« fragte Anna endlich. Aratow kniete noch immer. »Ich habe sie nur zweimal gesehen, glauben Sie es mir! Und wenn ich nicht meine Gr;nde h;tte, die ich selbst weder richtig begreifen noch darlegen kann – wenn ;ber mir nicht eine Gewalt w;re, die st;rker ist als ich, so h;tte ich Sie darum nicht gebeten. Ich w;re gar nicht hergekommen. Ich brauche... ich mu;... Sie haben mir ja selbst gesagt, da; ich ihr Bild in seiner Reinheit wiederherstellen soll!« »Und Sie waren in meine Schwester nicht verliebt?« fragte Anna wieder. Aratow wu;te im ersten Augenblick nicht, was zu antworten, und wandte sich, wie von Schmerz ;berw;ltigt, von ihr weg. »Nun ja! Ich war verliebt! Ich bin es auch jetzt!« rief er mit derselben Verzweiflung aus. Im Nebenzimmer ert;nten Schritte. »Stehen Sie auf, stehen Sie auf«, sagte Anna schnell: »M;tterchen kommt!« Aratow erhob sich von den Knien. »Nehmen Sie meinetwegen das Tagebuch und die Photographie mit. Die arme, arme Katja!... Das Tagebuch m;ssen Sie mir aber wiedergeben«, f;gte sie lebhaft hinzu. »Und wenn Sie etwas ;ber sie schreiben, so m;ssen Sie es mir unbedingt schicken! H;ren Sie?« Das Erscheinen der Frau Milowidow entband Aratow von der Pflicht, etwas darauf zu sagen. Er hatte aber noch Zeit, dem jungen M;dchen zuzufl;stern: »Sie sind ein Engel! Ich danke Ihnen! Ich will Ihnen alles schicken, was ich schreibe.« Frau Milowidow war so verschlafen, da; sie nichts merkte. So verlie; Aratow mit der Photographie in der Brusttasche Kasan. Das Heftchen gab er Anna zur;ck, ri; aber heimlich die Seite heraus, auf der sich die unterstrichenen Worte befanden. W;hrend der R;ckfahrt nach Moskau war er wieder in der gleichen Erstarrung. Obwohl er sich auch in der Tiefe seiner Seele freute, da; er den Zweck seiner Reise erreicht hatte, schob er alle Gedanken an Klara bis zu seiner Heimkehr auf. Er dachte vielmehr an ihre Schwester Anna. Das ist doch wirklich ein herrliches, sympathisches Wesen! sagte er sich. Dieses feine Verst;ndnis f;r alles, dieses liebende Herz, dieser v;llige Mangel an Selbstsucht! Wie kommt es nur, da; in unserer Provinz und in einem solchen Milieu so herrliche M;dchen erbl;hen? Sie ist kr;nklich und unsch;n und auch nicht mehr jung, doch welch eine wunderbare Lebensgef;hrtin w;re sie f;r einen anst;ndigen gebildeten jungen Mann. In eine solche sollte man sich verlieben! Solche Gedanken gingen Aratow durch den Kopf. Als er aber wieder in Moskau war, nahm alles doch eine ganz andere Wendung. XIV Platonida Iwanowna freute sich unsagbar ;ber die R;ckkehr ihres Neffen. Was hatte sie sich nicht schon alles gedacht! – »Mindestens nach Sibirien!« fl;sterte sie, regungslos in ihrem Zimmerchen sitzend »Mindestens f;r ein Jahr!« Auch die K;chin machte ihr gro;e Angst, wenn sie ihr die verb;rgtesten Nachrichten ;ber das Verschwinden bald des einen, bald des andern jungen Mannes aus der Nachbarschaft ;berbrachte. Die absolute Unschuld und politische Zuverl;ssigkeit Jaschas vermochten sie nicht zu beruhigen: Es kann ja alles vorkommen! Er besch;ftigte sich mit Photographie – das gen;gt schon! Man verhaftet ihn! Da kam aber Jascha heil und gesund nach Hause! Allerdings kam er ihr etwas abgemagert vor; das war auch kein Wunder: die ganze Zeit ohne ihre Aufsicht! Sie wagte aber nicht, ihn ;ber seine Reise auszufragen. Beim Mittagessen erkundigte sie sich nur: »Ist Kasan eine h;bsche Stadt?« »Ja, eine h;bsche Stadt!« antwortete Aratow. »Leben dort lauter Tataren?« »Nicht lauter Tataren.« »Hast du dir keinen tatarischen Schlafrock mitgebracht?« »Nein, ich habe keinen mitgebracht.« Damit war das Gespr;ch zu Ende. Kaum war aber Aratow allein in seinem Kabinett, als er sich sofort an allen Gliedern ergriffen f;hlte, wie wenn er sich wieder in der Gewalt – ja, es war wohl eine Gewalt! – eines anderen Lebens, eines anderen Wesens bef;nde. Er hatte zwar Anna in jenem pl;tzlichen Ausbruch von Wahnsinn gesagt, da; er in Klara verliebt sei; dieses Wort erschien ihm aber jetzt dumm und sinnlos. Nein, er ist nicht verliebt; wie sollte er auch in eine Tote verliebt sein, die ihm selbst bei Lebzeiten nicht gefiel, die er beinahe vergessen hatte? – Nein! Er ist aber in der Gewalt, in ihrer Gewalt. Er geh;rt nicht mehr sich selbst. Er ist gefangen. Er ist derma;en gefangen, da; er nicht einmal versucht, sich auf irgendeine Weise frei zu machen – weder durch Spott ;ber seine Dummheit noch durch die Einsicht oder wenigstens die Hoffnung, da; alles vergehen werde, da; alles von den Nerven komme, noch durch irgendwelche logische Gr;nde! »Wenn ich ihn finde, so nehme ich ihn mir«, diese Worte Klaras, die er von Anna geh;rt hatte, kamen ihm in den Sinn. Nun hat sie ihn genommen. Sie ist aber tot? Ja, ihr K;rper ist tot. Und die Seele? Ist die Seele nicht unsterblich? Braucht sie denn irdische Organe, um ihre Gewalt zu zeigen? – Die Erscheinungen des Magnetismus beweisen, da; eine lebende Menschenseele auf eine andere lebende Menschenseele einwirken kann. Warum soll diese Wirkung nicht auch nach dem Tode fortbestehen, wenn die Seele doch lebendig bleibt? Ja, doch zu welchem Zweck? Was kann dabei herauskommen? Haben wir aber ;berhaupt eine Ahnung davon, welchen Zweck alles hat, was um uns geschieht? Diese Gedanken besch;ftigten Aratow so sehr, da; er beim Abendtee an Platoscha ganz unvermittelt die Frage richtete, ob sie an die Unsterblichkeit der Seele glaube. Platoscha verstand im ersten Augenblick nicht, was er wollte; dann bekreuzigte sie sich und antwortete: »Wie sollte denn die Seele nicht unsterblich sein?« »Kann sie dann auch nach dem Tode wirken?« fragte wieder Aratow. Die Alte antwortete, da; sie wohl f;r uns beten k;nne, das hei;t nur nachdem sie in Erwartung des J;ngsten Gerichts alle Leidensstationen durchgemacht habe. Die ersten vierzig Tage umschwebe sie aber die St;tte, wo sie den Tod erlitten. »Die ersten vierzig Tage?« »Ja, und dann beginnen die Leidensstationen.« Aratow wunderte sich ;ber die Kenntnisse der Tante und ging wieder in sein Kabinett. Und wieder f;hlte er die gleiche Gewalt ;ber sich. Diese Gewalt ;u;erte sich darin, da; er fortw;hrend das Bild Klaras vor sich sah; er sah es mit solchen Einzelheiten, wie er sie bei ihren Lebzeiten wohl gar nicht bemerkt hatte; er sah... er sah ihre Finger, ihre N;gel, die Haarstr;hnen an den Wangen unterhalb der Schl;fen, ein kleines Muttermal unter dem linken Auge; er sah die Bewegungen ihrer Lippen, Nasenfl;gel, Augenbrauen; ihren Gang, und wie sie den Kopf ein wenig nach rechts geneigt hielt: Alles sah er! Er sah es ganz ohne Bewunderung, er mu;te es aber unausgesetzt sehen und unausgesetzt daran denken. Doch in der ersten Nacht nach seiner R;ckkehr tr;umte er nicht von ihr. Er war sehr m;de und schlief fest wie ein Toter. Als er aber erwachte, trat sie sofort wieder in sein Zimmer und blieb darin wie eine Hausfrau; als ob sie sich mit ihrem freiwilligen Tod das Recht erkauft h;tte, ohne ihn zu fragen, bei ihm aus- und einzugehen. Er nahm ihre Photographie vor, begann sie zu reproduzieren und zu vergr;;ern. Dann fiel es ihm ein, das Bild f;r das Stereoskop einzurichten. Das machte ihm nicht wenig Arbeit. Schlie;lich brachte er es doch fertig. Er zuckte zusammen, als er durch die Linse ihre Figur sah, die den Anschein von K;rperlichkeit angenommen hatte. Sie war aber grau, wie verstaubt, und die Augen – die Augen blickten zur Seite, wie wenn sie sich von ihm wegwandte. Er stand lange da, blickte lange in die Augen, als erwarte er, da; sie sich auf ihn richten. Er kniff sogar seine Augen zusammen. Die ihrigen aber blieben unbeweglich, und ihre Figur bekam etwas Puppenhaftes. Er lie; das Bild liegen, warf sich in einen Sessel, holte das herausgerissene Tagebuchblatt mit der unterstrichenen Zeile hervor und dachte: Man sagt, da; Verliebte die Zeilen k;ssen, die von einer geliebten Hand herr;hren, ich habe aber diesen Wunsch nicht – auch die Handschrift erscheint mir nicht sch;n. Doch in dieser Zeile ist mein Gerichtsurteil enthalten. Da fiel ihm das Versprechen ein, das er Anna wegen des Artikels gegeben hatte. Er setzte sich hin und versuchte zu schreiben. Es wurde aber so verlogen, so hochtrabend, vor allem so verlogen, als ob er weder an die Worte, die er schrieb, noch an seine eigenen Gef;hle glaubte. Auch Klara selbst kam ihm so unbekannt und unverst;ndlich vor! Sie lie; sich gar nicht anfassen. Nein! sagte er sich und legte die Feder beiseite. Entweder ist das Schreiben ;berhaupt nicht meine Sache, oder ich mu; noch abwarten! Er dachte wieder an seinen Besuch bei den Milowidows und an die Erz;hlung Annas, dieser guten, herrlichen Anna... Das von ihr gebrauchte Wort »unber;hrte« kam ihm pl;tzlich in den Sinn; es versengte und erleuchtete seine Seele. »Ja«, sagte er laut. »Sie ist unber;hrt, auch ich bin unber;hrt. Das ist es, was ihr diese Gewalt ;ber mich gibt!« Er mu;te wieder an die Unsterblichkeit der Seele, an das Leben jenseits des Grabes denken. – Hei;t es denn nicht in der Bibel: »Tod, wo ist dein Stachel?« Und bei Schiller: »Auch die Toten sollen leben?« Wohl bei Mickiewicz hatte er gelesen: »Ich werde bis ans Ende der Zeiten lieben – und auch nach dem Ende der Zeiten!« Und ein englischer Dichter hat gesagt: »Die Liebe ist st;rker als der Tod!« Die Bibelstelle machte auf Aratow den gr;;ten Eindruck. Er wollte die Stelle nachschlagen. Und weil er keine eigene Bibel besa;, bat er Tante Platoscha um die ihrige. Sie war sehr erstaunt, holte aber ein uraltes Buch in verbogenem, mit Wachstropfen bedecktem Ledereinband mit Messingschlie;en hervor und h;ndigte es Aratow aus. Er ging damit zur;ck in sein Zimmer, konnte lange die Stelle, die er suchte, nicht finden – fand daf;r aber eine andere: »Niemand hat gr;;ere Liebe, denn die, da; er sein Leben lasset f;r seine Freunde.« (Johannis, XV, 13.) Er sagte sich: Es sollte anders hei;en: Niemand hat gr;;ere Gewalt... Und wenn sie ihr Leben gar nicht f;r mich gelassen hat? Wenn sie nur darum Hand an sich gelegt hat, weil das Leben ihr eine Last war? Wenn sie schlie;lich gar nicht einer Liebeserkl;rung wegen zum Stelldichein gekommen war? In diesem Augenblick erschien vor ihm Klara, so wie er sie vor der Trennung auf dem Boulevard gesehen hatte. Er erinnerte sich ihres wehm;tigen Ausdrucks, ihrer Tr;nen und ihrer Worte: »Ach, Sie haben ja nichts verstanden!...« Nein, er durfte nicht mehr zweifeln, wof;r und f;r wen sie ihr Leben gelassen hatte. So verging der ganze Tag bis zum Abend. XV Aratow ging fr;h zu Bett; er wollte eigentlich noch nicht schlafen, hoffte aber im Bett Ruhe zu finden. Die Spannung der Nerven erm;dete ihn viel mehr als die physische Abspannung der Reise. Wie gro; auch seine M;digkeit war, einschlafen konnte er doch nicht. Er versuchte zu lesen, doch die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Er blies die Kerze aus, und in seinem Zimmer wurde es dunkel. Er lag aber noch immer schlaflos mit geschlossenen Augen da. Pl;tzlich kam es ihm vor, als ob ihm jemand etwas ins Ohr fl;stere... Es ist das Herzklopfen, das Rauschen des Blutes, dachte er sich. Das Gefl;ster ging aber in zusammenh;ngende Rede ;ber. Jemand sprach russisch, hastig, klagend, doch unverst;ndlich. Er konnte kein einziges Wort verstehen. Es war aber Klaras Stimme! Aratow ;ffnete die Augen, setzte sich auf und st;tzte sich in die Ellenbogen. Die Stimme klang etwas leiser, fuhr aber in ihrer klagenden, hastigen, noch immer unverst;ndlichen Rede fort. Es war zweifellos Klaras Stimme! Unsichtbare Finger liefen ;ber die Tasten des Pianinos. Dann erklang wieder die Stimme. Zuerst gedehnte T;ne, wie Seufzer – immer die gleichen. Und dann einzelne verst;ndliche Worte: »Rosen... Rosen... Rosen...« »Rosen«, fl;sterte Aratow nach. »Ach ja! Das sind ja die Rosen, die ich im Traume auf dem Kopfe jenes Wesens gesehen habe.« »Rosen...« klang es wieder. »Bist du es?« fragte Aratow im gleichen Fl;sterton. Die Stimme war pl;tzlich verstummt. Aratow wartete, wartete und lie; den Kopf auf das Kissen sinken. Eine Geh;rhalluzination, sagte er sich. Wenn sie aber wirklich hier in der N;he ist? Wenn ich sie erblicke, werde ich da erschrecken? Oder mich freuen? Warum sollte ich erschrecken? Und wor;ber sollte ich mich freuen? H;chstens dar;ber, da; es ein Beweis f;r die Existenz einer anderen Welt, der Unsterblichkeit der Seele w;re. Und wenn ich auch etwas sehe, so kann es ;brigens auch nur eine Gesichtshalluzination sein. Er z;ndete aber dennoch die Kerze an und lie; den Blick schnell, nicht ohne eine gewisse Angst, ;ber das ganze Zimmer schweifen, entdeckte aber darin nichts Au;ergew;hnliches. Er stand auf, ging zum Stereoskop und sah wieder die gleiche graue Puppe mit den auf die Seite gerichteten Augen. Die Angst machte einem Gef;hl von #196;rger Platz. Es war, wie wenn er sich in seinen Erwartungen get;uscht h;tte; auch die Erwartungen selbst kamen ihm jetzt l;cherlich vor. »Das ist ja schlie;lich dumm!« murmelte er. Er legte sich wieder hin und blies die Kerze aus. Und wieder wurde es im Zimmer stockfinster. Aratow beschlo; diesmal einzuschlafen. Aber eine neue Empfindung bem;chtigte sich seiner. Es schien ihm, als ob jemand in der Mitte des Zimmers nicht weit von ihm stehe und kaum wahrnehmbar atme. Er wandte sich rasch um und schlug die Augen auf. Was konnte er aber in der undurchdringlichen Finsternis sehen? Er begann nach einem Z;ndholz auf dem Nachttisch zu suchen, und pl;tzlich war es ihm, als ziehe ein weicher, lautloser Wirbelwind durch das ganze Zimmer, ;ber ihn, durch ihn hindurch, und das Wort »Ich!« klang deutlich in seinen Ohren. »Ich!... Ich!...« Es vergingen einige Augenblicke, ehe er die Kerze anz;nden konnte. Im Zimmer war wieder nichts zu sehen, und er h;rte auch nichts mehr au;er dem schnellen Pochen seines eigenen Herzens. Er trank ein Glas Wasser und blieb regungslos, den Kopf in eine Hand gest;tzt, liegen. Er wartete. Er dachte: Ich will warten. Entweder ist alles Unsinn oder sie ist hier. Sie wird doch nicht mit mir wie die Katze mit der Maus spielen! Er wartete, er wartete lange, so lange, da; die Hand, in die er den Kopf st;tzte, einschlief. Doch keine der fr;heren Empfindungen wollte sich wiederholen. Zweimal fielen ihm die Augen zu. Er schlug sie jedesmal wieder auf; es schien ihm wenigstens, da; er sie aufschlug. Allm;hlich richteten sie sich auf die T;r und blieben an ihr haften. Die Kerze war heruntergebrannt, und das Zimmer verdunkelte sich wieder. Die T;r hob sich als l;nglicher wei;er Fleck im Halbdunkel ab. Dieser Fleck regte sich, wurde kleiner, verschwand, und an seiner Statt erschien an der Schwelle eine weibliche Gestalt. Aratow sah gespannt hin: Es war Klara! Diesmal blickte sie ihm gerade ins Gesicht und bewegte sich auf ihn zu. Sie hatte auf dem Kopf einen Kranz roter Rosen. Er zuckte zusammen und setzte sich auf. Vor ihm stand seine Tante in wei;er Nachtjacke und einer Nachthaube mit gro;er roter Schleife. »Platoscha!« brachte er mit M;he hervor. »Sind Sie es?« »Ja, ich«, antwortete Piatonida Iwanowna. »Ich bin es, Jascha.« – »Warum sind Sie hergekommen?« »Du hast mich ja geweckt. Anfangs hast du lange gest;hnt, dann pl;tzlich aufgeschrien: ›Zur Hilfe!‹ « »Habe ich geschrien?« »Ja, und mit so heiserer Stimme: ›Zur Hilfe!‹ Ich dachte mir: Mein Gott! Ist er am Ende krank? Also kam ich her. F;hlst du dich wohl?« »Ja, vollkommen.« »Dann hast du wohl einen b;sen Traum gehabt. Willst du, da; ich ein wenig mit Weihrauch r;uchere?« Aratow blickte die Tante noch einmal aufmerksam an und lachte pl;tzlich laut auf. Die gute Alte in Haube und Nachtjacke, mit dem erschrockenen langgezogenen Gesicht war tats;chlich recht komisch anzuschauen. Alles Geheimnisvolle, was ihn soeben umschwebt und bedr;ckt hatte, der ganze Zauber war mit einem Male verflogen. »Nein, liebste Platoscha, bitte, nicht!« sagte er. »Entschuldigen Sie bitte, da; ich Sie, ohne es zu wollen, geweckt habe. Schlafen Sie wohl, auch ich werde einschlafen.« Platonida Iwanowna blieb noch eine Weile stehen, zeigte auf die Kerze, brummte: »Warum l;schst du sie nicht aus? Wie leicht kann ein Ungl;ck geschehen!« und konnte sich nicht enthalten, ihn beim Weggehen zu bekreuzigen. Aratow versank sofort in Schlaf und schlief bis zum Morgen durch. Er stand in recht guter Stimmung auf, obwohl ihm irgend etwas leid tat. Er f;hlte sich leicht und frei. Das sind romantische Einf;lle! sagte er sich mit einem L;cheln. Er warf weder einen Blick ins Stereoskop noch auf das von ihm herausgerissene Tagebuchblatt. Doch gleich nach dem Fr;hst;ck begab er sich zu Kupfer. Er f;hlte dunkel, was ihn zu ihm hinzog. XVI Aratow traf seinen sanguinischen Freund zu Hause an. Er sprach mit ihm ;ber dies und jenes, machte ihm Vorw;rfe, da; er ihn und die Tante ganz vergessen habe, h;rte von ihm neue Lobhymnen auf das goldene Herz der F;rstin, von der Kupfer soeben aus Jaroslawl ein mit Fischschuppen besticktes K;ppchen zum Geschenk bekommen hatte. Pl;tzlich setzte er sich vor Kupfer hin, blickte ihm gerade in die Augen und erkl;rte, da; er in Kasan gewesen sei. »Du warst in Kasan? Wozu?« »Ich wollte einiges ;ber diese... Klara Militsch erfahren.« »;ber die, die sich vergiftet hat?« »Ja.« Kupfer sch;ttelte den Kopf. »So einer bist du gar! Und stellst dich so still! Tausend Werst f;hrst du hin, tausend Werst zur;ck – und wozu? Warum? Wenn doch wenigstens irgendein Frauenzimmer im Spiele w;re! Dann w;rde ich alles verstehen. Alles! Jeden Wahnsinn!« Kupfer zerzauste sich das Haar. »Aber nur um Material zu sammeln, wie ihr gelehrten M;nner es nennt. Ich danke! Dazu gibt es statistische Komitees! Nun, hast du die Alte und die Schwester kennengelernt? Ein pr;chtiges M;dchen, nicht wahr?« »Ja, ein pr;chtiges M;dchen«, best;tigte Aratow. »Sie hat mir viel Interessantes erz;hlt.« »Hat sie dir auch gesagt, wie Klara sich vergiftet hat?« »Was hei;t... wie?« »Auf welche Weise?« »Nein. Sie war ja noch zu sehr ersch;ttert. Ich wagte nicht, sie zu viel zu fragen. War es denn irgendwie au;ergew;hnlich?« »Gewi;. Stell dir nur vor. Sie mu;te an jenem Tag spielen, und sie spielte auch. Sie nahm das Fl;schchen mit dem Gift mit ins Theater, trank es vor dem ersten Akt aus und spielte den ganzen Akt zu Ende. Mit dem Gift im Magen! Diese Willensst;rke! Dieser Charakter! Man sagt, da; sie noch keine Rolle mit solchem Gef;hl, mit solchem Feuer gespielt habe! Das Publikum ahnte nichts, klatschte und rief Bravo. Kaum war aber der Vorhang gefallen, als auch sie auf die B;hne fiel. Sie bekam Kr;mpfe, Kr;mpfe; und nach einer Stunde gab sie den Geist auf! Habe ich es dir denn noch nicht erz;hlt? Es stand auch in den Zeitungen!« Aratow f;hlte pl;tzlich seine H;nde erkalten und etwas in seiner Brust zittern. »Nein, du hast es mir noch nicht erz;hlt«, sagte er schlie;lich. »Wei;t du nicht was f;r ein St;ck es war?« Kupfer versuchte sich zu besinnen. »Man hat mir das St;ck wohl genannt – ein betrogenes M;dchen kommt darin vor. Es wird wohl irgendein Drama gewesen sein. Klara war f;r dramatische Rollen wie geboren. Selbst ihr #196;u;eres... Ja, wo willst du denn hin?« unterbrach sich Kupfer, als er Aratow nach der M;tze greifen sah. »Ich f;hle mich nicht ganz wohl«, antwortete Aratow. »Auf Wiedersehen. Ich komme ein anderes Mal.« Kupfer hielt ihn auf und blickte ihm ins Gesicht. »Was bist du doch f;r ein nerv;ser Mensch! Schau dich nur an... Bist wei; wie Kreide.« »Mir ist nicht ganz wohl«, wiederholte Aratow. Er befreite sich aus Kupfers Armen und ging nach Hause. Erst jetzt wurde es ihm klar, da; er zu Kupfer mit einer einzigen Absicht gegangen war, n;mlich mit ihm ;ber Klara zu sprechen. »;ber die wahnsinnige, unselige Klara...« Als er aber nach Hause kam, beruhigte er sich wieder einigerma;en. Die n;heren Umst;nde des Selbstmordes machten zun;chst einen ersch;tternden Eindruck auf ihn. Sp;ter aber kam ihm dieses Spiel »mit dem Gift im Magen«, wie Kupfer sich ausgedr;ckt hatte, als eine h;;liche Phrase, als ein Bravourst;ck vor, und er bem;hte sich, nicht mehr daran zu denken, um nicht ein Gef;hl von Ekel in sich aufkommen zu lassen. Als er beim Mittagessen der Tante Platoscha gegen;bersa;, erinnerte er sich pl;tzlich an die mittern;chtliche Erscheinung mit der kurzen Nachtjacke und der gro;en Schleife an der Haube (wozu hat sie an der Haube diese Schleife?), an ihre ganze komische Gestalt, die wie der Signalpfiff des Regisseurs in einem phantastischen Ballett alle Visionen zu Staub zerfallen machte. Er veranla;te sogar Platoscha, ihm noch einmal zu erz;hlen, wie sie seinen Aufschrei geh;rt habe, wie sie aufgesprungen sei und im ersten Augenblick vor Schreck weder ihre noch seine T;r habe finden k;nnen und so weiter. Abends spielte er mit ihr wieder Karten und zog sich in sein Zimmer zur;ck, etwas traurig, doch ziemlich ruhig. Aratow dachte nicht an die bevorstehende Nacht und f;rchtete sie nicht: Er war ;berzeugt, da; er sie gut verbringen w;rde. Der Gedanke an Klara erwachte in ihm nur ab und zu; es fiel ihm aber jedesmal ein, wie »theatralisch« sie sich umgebracht hatte, und er wandte sich von ihr wieder ab. Dieses H;;liche verscheuchte jede andere Erinnerung an sie. Er warf einen Blick ins Stereoskop, und es kam ihm vor, da; sie sich nur darum von ihm wegwandte, weil sie sich sch;mte. An der Wand ;ber dem Stereoskop hing das Bildnis seiner Mutter. Aratow nahm es vom Nagel, betrachtete es lange, k;;te es und steckte es behutsam in die Schublade. Warum tat er es? Weil dieses Bild nicht in der N;he jenes anderen weiblichen Wesens bleiben durfte oder aus irgendeinem anderen Grund? Er gab sich keine Rechenschaft dar;ber. Das Bild der Mutter brachte ihm aber seinen Vater in Erinnerung, den Vater, den er einst in diesem selben Zimmer, auf diesem selben Bett hatte sterben sehen. Was denkst du dir dar;ber, Vater? wandte er sich in Gedanken an ihn. Du hast doch das alles verstanden, hast auch an die Schillersche Geisterwelt geglaubt. Gib mir nun einen Rat! »Der Vater w;rde mir raten, diesen ganzen Unsinn bleibenzulassen!« sagte Aratow laut und griff nach einem Buch. Er konnte aber doch nicht lesen; er f;hlte eine seltsame Schwere in seinem ganzen K;rper und ging fr;her als sonst zu Bett, fest davon ;berzeugt, da; er sofort einschlafen werde. Er schlief auch wirklich sofort ein, aber seine Hoffnung auf eine friedliche Nacht ging nicht in Erf;llung. XVII Es hatte noch nicht Mitternacht geschlagen, als er einen ungew;hnlichen, unheildrohenden Traum hatte. Es tr;umte ihm, da; er sich in einem reichen Gutshaus befinde, dessen Besitzer er sei. Er hat erst vor kurzem das Haus und das dazugeh;rige Gut gekauft. Und er denkt sich immer; Jetzt ist es gut, sehr gut, es wird aber ein schlechtes Ende nehmen! Vor ihm scharwenzelt ein kleines M;nnchen, sein Gutsverwalter; er lacht immer, verbeugt sich und will Aratow zeigen, wie sch;n alles im Haus und auf dem Gut eingerichtet sei. »Bitte sch;n, bitte sch;n«, sagte er, bei jedem Worte kichernd, »schauen Sie nur, wie gut alles eingerichtet ist! Da sind die Pferde – was f;r herrliche Pferde!« Aratow sieht eine Reihe riesengro;er Pferde. Sie stehen im Stall mit dem R;cken zu ihm; sie haben wunderbare M;hnen und Schweife. Als Aratow an ihnen vorbeigeht, wenden sie ihre K;pfe nach ihm um und fletschen unangenehm die Z;hne. Es ist wohl sch;n, wird aber ein schlechtes Ende nehmen!, denkt sich Aratow. »Bitte sch;n, bitte sch;n!« sagt wieder der Verwalter. »Kommen Sie in den Garten, schauen Sie nur, was f;r herrliche #196;pfel Sie haben!« Die #196;pfel sind wirklich herrlich, rot und rund; wie Aratow sie aber genauer anschaut, werden sie runzlig und fallen zu Boden. Das wird ein schlechtes Ende nehmen!, denkt er sich. »Da ist der See«, lallt der Verwalter, »schauen Sie nur, wie blau und wie glatt er ist! Da ist auch der goldene Nachen. Wollen Sie nicht ein wenig spazierenfahren? Er f;hrt ganz von selbst.« Nein, ich setze mich nicht hinein!, denkt sich Aratow, es wird ein schlechtes Ende nehmen! Und er setzt sich doch in den Nachen. Auf dem Boden des Nachens liegt zusammengekauert ein kleines Gesch;pf, einem Affen ;hnlich; es h;lt ein Fl;schchen mit einer dunklen Fl;ssigkeit in den Pfoten. »Haben Sie nur keine Angst«, ruft ihm der Verwalter vom Ufer nach. »Es ist nichts! Es ist der Tod! Gl;ckliche Reise!« Der Nachen f;hrt schnell dahin. Pl;tzlich aber kommt ein Wirbelwind, nicht wie der gestrige lautlose, weiche – nein, ein schwarzer, schrecklicher, heulender Wirbelwind! Alles dreht sich, und Aratow sieht mitten in der wirbelnden Finsternis Klara in ihrem Theaterkost;m: Sie f;hrt ein Fl;schchen an die Lippen, aus der Ferne klingen Bravorufe, und eine rohe Stimme schreit Aratow ins Ohr: »Du glaubtest wohl, da; es mit einer Kom;die enden wird? Nein, es ist eine Trag;die! Eine Trag;die!« Aratow erwacht, am ganzen Leibe zitternd. Im Zimmer ist es gar nicht finster. Von irgendwo kommt ein schwacher Schimmer, der alle Gegenst;nde mit traurigem, unbeweglichem Licht ;bergie;t. Aratow gibt sich keine Rechenschaft dar;ber, woher das Licht kommt. Er f;hlt nur das eine: Klara ist hier, in diesem Zimmer. Er f;hlt ihre N;he. Er ist wieder und f;r immer in ihrer Gewalt! Aus seinen Lippen dringt der Schrei: »Klara, bist du hier?« »Ja!« ert;nt es deutlich mitten im unbeweglich erleuchteten Zimmer. Aratow wiederholt lautlos seine Frage. – »Ja!« t;nt es wieder. »Also will ich dich sehen!« schreit er auf und springt aus dem Bett. Einige Augenblicke stand er unbeweglich mit den blo;en F;;en auf dem kalten Fu;boden. Seine Blicke schweiften umher, seine Lippen fl;sterten: »Wo denn? Wo?« Nichts zu sehen und nichts zu h;ren. Er sah sich um und merkte, da; das schwache Licht, das das Zimmer erf;llte, von einem Nachtlicht kam, das, mit einem Blatt Papier verdeckt, in der Ecke stand: Platoscha hatte es wohl, als er schlief, hingestellt. Er sp;rte auch den Geruch von Weihrauch; auch das war wohl ihr Werk. Er zog sich schnell an. Noch l;nger im Bett zu bleiben und einzuschlafen war undenkbar. Er blieb mitten im Zimmer stehen und kreuzte die Arme. Er f;hlte die Anwesenheit Klaras st;rker als je. Und nun begann er nicht laut, aber langsam und feierlich, wie man Beschw;rungsformeln spricht: »Klara, wenn du wirklich hier bist, wenn du mich siehst, wenn du mich h;rst, so erscheine! Wenn du verstehst, wie bitter ich es bereue, da; ich dich nicht verstanden und dich zur;ckgewiesen habe, so erscheine! Wenn das, was ich h;rte, wirklich deine Stimme war, wenn das Gef;hl, das mich ergriffen, Liebe ist; wenn du jetzt ;berzeugt bist, da; ich, der ich bisher noch kein einziges Weib geliebt und erkannt habe, dich liebe; wenn du wei;t, da; ich nach deinem Tode in leidenschaftlicher, un;berwindlicher Liebe zu dir entflammt bin; wenn du nicht willst, da; ich wahnsinnig werde – so erscheine, Klara!« Aratow hatte das letzte Wort noch nicht gesprochen, als er pl;tzlich f;hlte, wie jemand von r;ckw;rts schnell auf ihn zuging – wie damals auf dem Boulevard – und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Er wandte sich um und sah niemand. Aber das Gef;hl ihrer N;he wurde so deutlich, so zweifellos, da; er sich noch einmal umsah. Was ist das?! In seinem Sessel, zwei Schritte vor ihm, sitzt ein weibliches Wesen, ganz in Schwarz. Der Kopf ist zur Seite geneigt, wie im Stereoskop. Das ist sie! Das ist Klara! Doch welch ein strenges, trauriges Gesicht! Aratow sank langsam in die Knie. Ja, er hatte damals recht gehabt: Er empfand jetzt weder Entsetzen noch Freude, nicht einmal Erstaunen. Sein Herz begann sogar langsamer zu schlagen. Er hatte nur ein Gef;hl, nur ein Bewu;tsein: Endlich! Endlich! »Klara«, begann er mit schwacher, doch gleichm;;iger Stimme, »warum siehst du mich nicht an? Ich wei; ja, da; du es bist. Ich k;nnte mir aber auch denken, da; meine Einbildungskraft ein Bild geschaffen hat, das jenem (er zeigte mit der Hand auf das Stereoskop) ;hnlich ist. Beweise mir, da; du es bist. Wende dich zu mir um, sieh mich an, Klara!« Klara hob langsam die Hand und lie; sie wieder sinken. »Klara, Klara, wende dich zu mir um!« Und Klara wandte langsam den Kopf zu ihm, die gesenkten Lider hoben sich, und die dunklen Pupillen hefteten sich auf Aratow. Er wich etwas zur;ck und hauchte gedehnt und zitternd: »Ah!« Klara sah ihn unverwandt an, aber ihre Augen, ihre Z;ge bewahrten den fr;heren nachdenklich strengen, beinahe unzufriedenen Ausdruck. Diesen Ausdruck hatte sie damals bei der literarischen Matinee auf dem Podium, ehe sie Aratow erblickte. Und ebenso wie damals err;tete sie pl;tzlich, ihr Gesicht belebte sich, der Blick leuchtete auf, und die Lippen ;ffneten sich in einem freudigen, sieghaften L;cheln. »Du hast mir vergeben!« rief Aratow aus. »Du hast gesiegt. Nimm mich hin! Ich bin dein, und du bist mein!« Er st;rzte zu ihr hin, er wollte sie auf die l;chelnden sieghaften Lippen k;ssen – und er k;;te sie auch, er f;hlte ihre hei;e Ber;hrung, er f;hlte sogar die feuchte K;hle ihrer Z;hne – und im halbdunklen Zimmer erklang ein Schrei der Verz;ckung. Platonida Iwanowna, die sofort herbeist;rzte, fand ihn in einer Ohnmacht. Er kniete auf dem Boden, sein Kopf ruhte auf dem Sessel, die ausgestreckten Arme hingen kraftlos herab, das bleiche Gesicht atmete unendliches berauschendes Gl;ck. Platonida Iwanowna sank neben ihm hin, umarmte ihn und begann zu stammeln: »Jascha, Jascha!« Sie versuchte ihn mit ihren knochigen Armen aufzuheben. Er r;hrte sich nicht. Piatonida Iwanowna begann nun mit unmenschlicher Stimme zu schreien, und die Dienstmagd lief herbei. Sie hoben ihn mit vereinten Kr;ften auf, setzten ihn in den Sessel und begannen ihn mit geweihtem Wasser zu besprengen. Er kam zu sich. Alle Fragen der Tante beantwortete er nur mit einem L;cheln. Er sah so selig und gl;cksvergessen aus, da; sie noch mehr erschrak und bald ihn, bald sich bekreuzigte. Aratow schob schlie;lich ihre Hand zur Seite und fragte mit dem gleichen seligen Gesichtsausdruck: »Platoscha, was ist mit Ihnen los?« »Was ist mit dir los, Jascha?« »Was mit mir los ist? Ich bin gl;cklich – Ich bin gl;cklich, Platoscha, das ist mit mir los. Und jetzt will ich mich hinlegen und schlafen.« Er wollte aufstehen, f;hlte aber eine solche Schw;che in den Beinen und im ganzen K;rper, da; er ohne Hilfe der Tante und der Magd gar nicht imstande war, sich auszuziehen und hinzulegen. Daf;r schlief er sehr schnell ein. Sein Gesicht behielt den gleichen seligen und verz;ckten Ausdruck, war aber sehr bleich. XVIII Als Platonida Iwanowna am n;chsten Morgen zu ihm hereinkam, war er noch immer im gleichen Zustand. Seine Schw;che war nicht vergangen, und er zog es vor, im Bett zu bleiben. Seine Bl;sse machte Platonida Iwanowna besondere Angst. Gott, was ist denn das? fragte sie sich. Er hat keinen Tropfen Blut im Gesicht, will die Bouillon nicht mal versuchen, liegt da und l;chelt und behauptet dabei, da; ihm nichts fehle! Er wies auch das Fr;hst;ck zur;ck. »Was hast du denn, Jascha?« fragte sie ihn. »Willst du denn den ganzen Tag so liegen?« »Warum auch nicht?« antwortete Aratow freundlich. Auch dieser freundliche Ton gefiel Platonida Iwanowna nicht. Aratow hatte das Aussehen eines Menschen, der ein gro;es, f;r ihn sehr angenehmes Geheimnis erfahren hat, das er eifers;chtig f;r sich bewahrt. Er wartete auf die Nacht weniger mit Ungeduld als mit Neugier. Was kommt nun weiter? fragte er sich. Was kann noch kommen? Er staunte nicht mehr. Er zweifelte nicht mehr, da; er mit Klara verkehrte; er zweifelte auch nicht mehr, da; sie einander liebten. Was kann aber aus einer solchen Liebe herauskommen? Er erinnerte sich jenes Kusses, und ein wunderbarer Wonneschauer durchlief alle seine Glieder. Einen solchen Ku; tauschten wohl Romeo und Julia aus! dachte er sich. Das n;chste Mal werde ich mich aber besser beherrschen. Ich werde sie besitzen. Sie wird mit einem Kranz kleiner Rosen auf den schwarzen Locken kommen... Und weiter? Wir k;nnen doch nicht zusammenleben! Also mu; ich wohl sterben, um mit ihr zusammen zu sein? Kam sie vielleicht deswegen her, um mich so zu nehmen? »Was ist denn dabei? Warum soll ich auch nicht sterben? Den Tod f;rchte ich jetzt gar nicht. Er kann mich doch nicht vernichten! Im Gegenteil, nur so und dort werde ich gl;cklich sein – wie ich im Leben niemals gl;cklich war und wie sie es auch niemals war. Wir sind ja beide unber;hrt! Oh, dieser Ku;!« Platonida Iwanowna kam jeden Augenblick zu ihm herein; sie qu;lte ihn nicht mit Fragen, sondern sah ihn nur an, fl;sterte, seufzte und ging wieder hinaus. Nun wies er auch das Mittagessen zur;ck. Das war schon h;chst bedenklich. Die Alte wandte sich daher an ihren Bekannten, den Revierarzt, dem sie nur aus dem Grunde vertraute, weil er nicht trank und eine Deutsche zur Frau hatte. Aratow wunderte sich, als sie ihn zu ihm brachte; Platonida Iwanowna bat aber ihren Jascha so inst;ndig, Paramon Paramonytsch (so hie; der Arzt) zu erlauben, ihn zu untersuchen – und wenn auch nur ihr zuliebe! –, da; Aratow einwilligte. Paramon Paramonytsch bef;hlte seinen Puls, lie; sich die Zunge zeigen, stellte einige Fragen und erkl;rte schlie;lich, da; er ihn auskultieren m;sse. Aratow war so friedfertig gestimmt, da; er auch dies erlaubte. Der Arzt entbl;;te behutsam seine Brust, beklopfte sie vorsichtig, behorchte sie, murmelte etwas, verschrieb Tropfen und eine Mixtur und riet ihm, vor allen Dingen m;glichst Ruhe zu bewahren und alle Aufregungen von sich fernzuhalten. Warum nicht gar! dachte sich Aratow, Du kommst zu sp;t damit, mein Bester! »Was fehlt Jascha?« fragte Platonida Iwanowna, Paramon Paramonytsch an der Schwelle einen Dreirubelschein in die Hand dr;ckend. Der Revierarzt, der wie alle modernen #196;rzte, besonders aber diejenigen, die eine Uniform tragen, gerne mit wissenschaftlichen Fachausdr;cken paradierte, erkl;rte ihr, da; ihr Neffe alle dioptrischen Symptome einer nerv;sen Kardialgie und auch etwas Febris habe. »Sprich doch verst;ndlicher, V;terchen«, unterbrach ihn Platonida Iwanowna. »Mach mir mit deinem Latein keine Angst. Du bist ja nicht in der Apotheke!« »Das Herz ist nicht in Ordnung«, erkl;rte der Arzt, »auch ist ein kleines Fieber da.« Und er wiederholte seinen Rat bez;glich der Ruhe und der Vermeidung von Aufregungen. »Es ist doch nicht gef;hrlich?« fragte Platonida Iwanowna streng. (Pa; auf: Komm mir nicht wieder mit deinem Latein!) »Vorl;ufig nicht!« Der Arzt ging, und Platonida Iwanowna wurde sehr tr;bsinnig. Sie lie; die Arznei aus der Apotheke holen, die Aratow aber nicht einnahm. Er wies auch den Brusttee zur;ck. »Warum beunruhigen Sie sich so?« fragte er sie. »Ich versichere Sie, ich bin jetzt der gl;cklichste und ges;ndeste Mensch auf Gottes Erden!« Piatonida Iwanowna sch;ttelte nur den Kopf. Gegen Abend hatte er etwas st;rkeres Fieber, bestand aber darauf, da; sie nicht bei ihm blieb, sondern in ihr Zimmer schlafen ging. Platonida Iwanowna f;gte sich, zog sich aber nicht aus und legte sich auch nicht hin; sie sa; in einem Sessel, horchte hinaus und fl;sterte ihr Gebet. Sie begann gerade einzunicken, als ein entsetzlicher, durchdringender Schrei sie pl;tzlich weckte. Sie sprang auf, st;rzte zu Aratow ins Kabinett und fand ihn wie gestern auf dem Boden liegen. Diesmal kam er aber nicht zu sich, wie sehr sie sich auch um ihn bem;hte. In derselben Nacht bekam er ein heftiges Fieber, zu dem sich eine Herzentz;ndung gesellte. Nach einigen Tagen starb er. Ein seltsamer Umstand begleitete seinen zweiten Ohnmachtsanfall. Als man ihn aufhob und ins Bett legte, fand man in seiner zusammengeballten Rechten eine Str;hne schwarzer Frauenhaare. Wo kamen diese Haare her? Anna Ssemjonowna besa; wohl eine solche Str;hne von Klaras Haaren; sie w;rde aber doch ein so kostbares Andenken nicht Aratow schenken! Oder hatte sie die Haare ins Tagebuch gelegt und damit aus Versehen Aratow gegeben? In seinem Delirium vor dem Tode hielt er sich f;r Romeo nach dem Selbstmord. Er sprach von einer geschlossenen, einer vollzogenen Ehe; da; er jetzt wisse, was Wonne sei. Am schrecklichsten war f;r Platoscha der Augenblick, als Aratow kurz zur Besinnung kam, sie vor seinem Bette stehen sah und sagte: »Tante, was weinst du? Weil ich sterben mu;? Wei;t du denn nicht, da; die Liebe st;rker ist als der Tod?... Tod! Tod, wo ist dein Stachel? Du sollst nicht weinen, du sollst dich freuen, wie ich mich freue...« Und das Gesicht des Sterbenden erstrahlte wieder in jenem seligen L;cheln, vor dem sich die Alte so sehr f;rchtete.