8. DIE EISENBAHNREISENDEN
Wir sind, mit dem irdisch befleckten Auge gesehn, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verungluckt sind undzwar an einer Stelle wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, da? der Blick es immerfort suchen mu? und immerfort verliert wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind. Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Hochstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und Verwundung des Einzelnen entzuckendes oder ermudendes kaleidoskopisches Spiel.
Was soll ich tun? oder Wozu soll ich es tun? sind keine Fragen dieser Gegenden.
9. EINE ALLTAGLICHE VERWIRRUNG
Ein alltaglicher Vorfall; sein Ertragen ein alltaglicher Heroismus: A. hat mit B. aus dem Nachbardorf H ein wichtiges Geschaft abzuschlie?en. Er geht zur Vorbesprechung nach H, legt den Hin- und Herweg in je zehn Minuten zuruck und ruhmt sich zuhause dieser besonderen Schnelligkeit. Am nachsten Tag geht er wieder nach H, diesmal zum endgultigen Geschaftsabschlu?; da dieser voraussichtlich mehrere Stunden erfordern wird, geht A schon fruhmorgens aus; trotzdem aber alle Nebenumstande, wenigstens nach A.’s Meinung, vollig die gleichen sind wie am Vortag braucht er diesmal zum Weg nach H zehn Stunden. Als er dort ermudet abends ankommt, sagt man ihm, da? B. argerlich wegen A’s Ausbleiben vor einer halben Stunde zu A. in sein Dorf hinuber gegangen sei; sie hatten einander eigentlich treffen mussen. Man rat A. zu warten, B. musse ja gleich zuruckkommen. A. aber, in Angst wegen des Geschaftes, macht sich sofort auf und eilt nachhause. Diesmal legt er den Weg, ohne besonders darauf zu achten, geradezu in einem Augenblick zuruck. Zuhause erfahrt er, B. sei doch schon gleich fruh gekommen, noch vor dem Weggang A’ s, ja er habe A. im Haustor getroffen, ihn an das Geschaft erinnert, aber A. habe gesagt, er hatte jetzt keine Zeit, er musse jetzt eiligst fort. Trotz dieses unverstandlichen Verhaltens A’s sei aber B. doch hier geblieben um auf A. zu warten. Er habe zwar schon oft nachgefragt ob A. zuruckgekommen sei, befinde sich aber noch immer oben in A’s Zimmer. Glucklich daruber, B. jetzt noch sprechen und ihm alles erklaren zu konnen lauft A. die Treppe hinauf. Schon ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung und fast ohnmachtig vor Schmerz, unfahig sogar zu schreien, nur winselnd im Dunkel, hort und sieht er, wie B., undeutlich ob in gro?er Ferne oder knapp neben ihm, wutend die Treppe hinunterstampft und endgultig verschwindet.
10. KAFKAS DON QUICHOTES
19. Okt. 17: Das Ungluck Don Quichotes ist nicht seine Phantasie, sondern Sancho Pansa.
20. Okt. 17: Sancho Pansa, der sich ubrigens dessen nie geruhmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, in den Abend- und Nachtstunden, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Rauberromane seinen Teufel, dem er spater den Namen Don Quichote gab, derart von sich abzulenken, da? dieser dann haltlos die verrucktesten Taten ausfuhrte, die aber mangels ihres vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hatte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmutig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefuhl dem Don Quichote auf seinen Zugen und hatte davon eine gro?e und nutzliche Unterhaltung bis an sein Ende.
22 Okt. 17: Eine der wichtigsten Don Quichotischen Taten, aufdringlicher als der Kampf mit der Windmuhle, ist der Selbstmord. Der tote Don Quichote will den toten Don Quichote toten; um zu toten, braucht er aber eine lebendige Stelle, diese sucht er nun mit seinem Schwerte ebenso unaufhorlich wie vergeblich. Unter dieser Beschaftigung rollen die zwei Toten, als unaufloslicher Purzelbaum, durch die Zeiten.
11. DAS SCHWEIGEN DER SIRENEN
Beweis dessen, da? auch unzulangliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen konnen:
Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und lie? sich am Mast festschmieden. Ahnliches hatten naturlich seit jeher alle Reisenden tun konnen, au?er denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, da? dies unmoglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verfuhrten hatte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehort hatte. Er vertraute vollstandig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude uber seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.
Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, namlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, da? sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hatte, vor ihrem Schweigen gewi? nicht. Dem Gefuhl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortrei?enden Uberhebung kann nichts Irdisches widerstehen.
Und tatsachlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sangerinnen nicht, sei es, da? sie glaubten, diesem Gegner konne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, da? der Anblick der Gluckseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen lie?.
Odysseus aber, um es so auszudrucken, horte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sangen, und nur er sei behutet, es zu horen. Fluchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Halse, das tiefe Atmen, die tranenvollen Augen, den halb geoffneten Mund, glaubte aber, dies gehore zu den Arien, die ungehort um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden formlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nachsten war, wu?te er nichts mehr von ihnen.
Sie aber – schoner als jemals – streckten und drehten sich, lie?en das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verfuhren, nur noch den Abglanz vom gro?en Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als moglich erhaschen.
Hatten die Sirenen Bewu?tsein, sie waren damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.
Es wird ubrigens noch ein Anhang hierzu uberliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, da? selbst die Schicksalsgottin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, da? die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Gottern den obigen Scheinvorgang nur gewisserma?en als Schild entgegengehalten.
12. DIE GEMEINSCHAFT VON SCHURKEN
Es war einmal eine Gemeinschaft von Schurken, d. h. es waren keine Schurken, sondern gewohnliche Menschen, der Durchschnitt. Sie hielten immer zusammen. Wenn z. B. einer von ihnen etwas schurkenma?iges ausgeubt hatte, d. h. wieder nichts schurkenma?iges, sondern so wie es gewohnlich, wie es ublich ist, und er dann vor der Gemeinschaft beichtete, untersuchten sie es, beurteilten es, legten Bu?en auf, verziehen udgl. Es war nicht schlecht gemeint, die Interessen der einzelnen und der Gemeinschaft wurden streng gewahrt und dem Beichtenden wurde das Komplement gereicht, dessen Grundfarbe er gezeigt hatte. So hielten sie immer zusammen, auch nach ihrem Tode gaben sie die Gemeinschaft nicht auf, sondern stiegen im Reigen zum Himmel.