N. sa? mit offenen, glasigen, aufgequollenen, nur fur die Minute noch dienstbaren Augen da, zitternd nach vorne geneigt, als hielte oder schluge ihn jemand im Nacken, die Unterlippe, ja der Unterkiefer selbst mit weit entblo?tem Zahnfleisch hing unbeherrscht hinab, das ganze Gesicht war aus den Fugen; noch atmete er, wenn auch schwer, dann aber wie befreit fiel er zuruck gegen die Lehne, schlo? die Augen, der Ausdruck irgendeiner gro?en Anstrengung fuhr noch uber sein Gesicht und dann war es zu Ende. Schnell sprang ich zu ihm, fa?te die leblos hangende, kalte, mich durchschauernde Hand; da war kein Puls mehr. Nun also, es war voruber. Freilich, ein alter Mann. Mochte uns das Sterben nicht schwerer werden. Aber wie Vieles war jetzt zu tun! Und was in der Eile zunachst? Ich sah mich nach Hilfe um; aber der Sohn hatte die Decke uber den Kopf gezogen, man horte sein endloses Schluchzen; der Agent, kalt wie ein Frosch, sa? fest in seinem Sessel, zwei Schritte gegenuber N. und war sichtlich entschlossen, nichts zu tun, als den Zeitlauf abzuwarten; ich also, nur ich blieb ubrig, um etwas zu tun und jetzt gleich das Schwerste, namlich der Frau irgendwie auf eine ertragliche Art, also eine Art, die es in der Welt nicht gab, die Nachricht zu vermitteln. Und schon horte ich die eifrigen, schlurfenden Schritte aus dem Nebenzimmer.
Sie brachte — noch immer im Stra?enanzug, sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich umzuziehen — ein auf dem Ofen durchwarmtes Nachthemd, das sie ihrem Mann jetzt anziehen wollte. »Er ist eingeschlafen«, sagte sie lachelnd und kopfschuttelnd, als sie uns so still fand. Und mit dem unendlichen Vertrauen des Unschuldigen nahm sie die gleiche Hand, die ich eben mit Widerwillen und Scheu in der meinen gehalten hatte, ku?te sie wie in kleinem ehelichen Spiel und — wie mogen wir drei anderen zugesehen haben! — N. bewegte sich, gahnte laut, lie? sich das Hemd anziehen, duldete mit argerlich-ironischem Gesicht die zartlichen Vorwurfe seiner Frau wegen der Uberanstrengung auf dem allzu gro?en Spaziergang und sagte dagegen, uns sein Einschlafen anders zu erklaren, merkwurdigerweise etwas von Langweile. Dann legte er sich, um sich auf dem Weg in ein anderes Zimmer nicht zu verkuhlen, vorlaufig zu seinem Sohn ins Bett; neben die Fu?e des Sohnes wurde auf zwei von der Frau eilig herbeigebrachten Polstern sein Kopf gebettet. Ich fand nach dem Vorangegangenen nichts Sonderbares mehr daran. Nun verlangte er die Abendzeitung, nahm sie ohne Rucksicht auf die Gaste vor, las aber noch nicht, sah nur hie und da ins Blatt und sagte uns dabei mit einem erstaunlichen geschaftlichen Scharfblick einiges recht Unangenehme uber unsere Angebote, wahrend er mit der freien Hand immerfort wegwerfende Bewegungen machte und durch Zungenschnalzen den schlechten Geschmack im Munde andeutete, den ihm unser geschaftliches Gebaren verursachte. Der Agent konnte sich nicht enthalten, einige unpassende Bemerkungen vorzubringen, er fuhlte wohl sogar in seinem groben Sinn, da? hier nach dem, was geschehen war, irgendein Ausgleich geschaffen werden mu?te, aber auf seine Art ging es freilich am allerwenigsten. Ich verabschiedete mich nun schnell, ich war dem Agenten fast dankbar; ohne seine Anwesenheit hatte ich nicht die Entschlu?kraft gehabt, schon fortzugehen.
Im Vorzimmer traf ich noch Frau N. Im Anblick ihrer armseligen Gestalt sagte ich aus meinen Gedanken heraus, da? sie mich ein wenig an meine Mutter erinnere. Und da sie still blieb, fugte ich bei: »Was man dazu auch sagen mag: die konnte Wunder tun. Was wir schon zerstort hatten, machte sie noch gut. Ich habe sie schon in der Kinderzeit verloren.« Ich hatte absichtlich ubertrieben langsam und deutlich gesprochen, denn ich vermutete, da? die alte Frau schwerhorig war. Aber sie war wohl taub, denn sie fragte ohne Ubergang: »Und das Aussehen meines Mannes?« Aus ein paar Abschiedsworten merkte ich ubrigens, da? sie mich mit dem Agenten verwechselte; ich wollte gern glauben, da? sie sonst zutraulicher gewesen ware. Dann ging ich die Treppe hinunter. Der Abstieg war schwerer als fruher der Aufstieg und nicht einmal dieser war leicht gewesen. Ach, was fur mi?lungene Geschaftswege es gibt und man mu? die Last weiter tragen.
30. GIBS AUF!
Es war sehr fruh am Morgen, die Stra?en rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, da? es schon viel spater war, als ich geglaubt hatte, ich mu?te mich sehr beeilen, der Schrecken uber diese Entdeckung lie? mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glucklicherweise war ein Schutzmann in der Nahe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lachelte und sagte: »Von mir willst du den Weg erfahren?« »Ja«, sagte ich, »da ich ihn selbst nicht finden kann.« »Gibs auf, gibs auf«, sagte er und wandte sich mit einem gro?en Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.
31. VON DEN GLEICHNISSEN
Viele beklagen sich, da? die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im taglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: »Gehe hinuber«, so meint er nicht, da? man auf die andere Seite hinubergehen solle, was man immerhin noch leisten konnte, wenn das Ergebnis des Weges wert ware, sondern er meint irgendein sagenhaftes Druben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht naher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, da? das Unfa?bare unfa?bar ist, und das haben wir gewu?t. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmuhen, sind andere Dinge.
Darauf sagte einer: »Warum wehrt ihr euch? Wurdet ihr den Gleichnissen folgen, dann waret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der taglichen Muhe frei.«
Ein anderer sagte: »Ich wette, da? auch das ein Gleichnis ist.«
Der erste sagte: »Du hast gewonnen.«
Der zweite sagte: »Aber leider nur im Gleichnis.«
Der erste sagte: »Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.«