Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. Einem Bekannten, der ihn im Vorubergehen von der Gasse aus gegru?t hatte, hatte er kaum mit einem abwesenden Lacheln geantwortet.
Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. Es bestand auch sonst keine Notigung dazu, denn er verkehrte mit seinem Vater standig im Geschaft. Das Mittagessen nahmen sie gleichzeitig in einem Speisehaus ein, abends versorgte sich zwar jeder nach Belieben; doch sa?en sie dann noch ein Weilchen, meistens jeder mit seiner Zeitung, im gemeinsamen Wohnzimmer, wenn nicht Georg, wie es am haufigsten geschah, mit Freunden beisammen war oder jetzt seine Braut besuchte.
Georg staunte daruber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Der Vater sa? beim Fenster in einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter ausgeschmuckt war, und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgend eine Augenschwache auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Fruhstucks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.
«Ah, Georg! » sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock offnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn – «mein Vater ist noch immer ein Riese», dachte sich Georg.
«Hier ist es ja unertraglich dunkel», sagte er dann.
«Ja, dunkel ist es schon», antwortete der Vater.
«Das Fenster hast du auch geschlossen?»
«Ich habe es lieber so. «
«Es ist ja ganz warm drau?en», sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Fruheren, und setzte sich.
Der Vater raumte das Fruhstucksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.
«Ich wollte dir eigentlich nur sagen», fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, «da? ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe. » Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und lie? ihn wieder zuruckfallen.
«Nach Petersburg?» fragte der Vater.
«Meinem Freunde doch», sagte Georg und suchte des Vaters Augen. – «Im Geschaft ist er doch ganz anders», dachte er, «wie er hier breit sitzt und die Arme uber der Brust kreuzt. «
«Ja. Deinem Freunde», sagte der Vater mit Betonung.
«Du wei?t doch, Vater, da? ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus Rucksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du wei?t selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist – das kann ich nicht hindern –, aber von mir selbst soll er es nun einmal nicht erfahren. «
«Und jetzt hast du es dir wieder anders uberlegt?» fragte der Vater, legte die gro?e Zeitung auf den Fensterbord und auf die Zeitung die Brille, die er mit der Hand bedeckte.
«Ja, jetzt habe ich es mir wieder uberlegt. Wenn er mein guter Freund ist, sagte ich mir, dann ist meine gluckliche Verlobung auch fur ihn ein Gluck. Und deshalb habe ich nicht mehr gezogert, es ihm anzuzeigen. Ehe ich jedoch den Brief einwarf, wollte ich es dir sagen. «
«Georg», sagte der Vater und zog den zahnlosen Mund in die Breite, «hor’ einmal! Du bist wegen dieser Sache zu mir gekommen, um dich mit mir zu beraten. Das ehrt dich ohne Zweifel. Aber es ist nichts, es ist arger als nichts, wenn du mir jetzt nicht die volle Wahrheit sagst. Ich will nicht Dinge aufruhren, die nicht hierher gehoren. Seit dem Tode unserer teueren Mutter sind gewisse unschone Dinge vorgegangen. Vielleicht kommt auch fur sie die Zeit und vielleicht kommt sie fruher, als wir denken. Im Geschaft entgeht mir manches, es wird mir vielleicht nicht verborgen – ich will jetzt gar nicht die Annahme machen, da? es mir verborgen wird –, ich bin nicht mehr kraftig genug, mein Gedachtnis la?t nach. Ich habe nicht mehr den Blick fur alle die vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens hat mich der Tod unseres Mutterchens viel mehr niedergeschlagen als dich. – Aber weil wir gerade bei dieser Sache sind, bei diesem Brief, so bitte ich dich Georg, tausche mich nicht. Es ist eine Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also tausche mich nicht. Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?»
Georg stand verlegen auf. «Lassen wir meine Freunde sein. Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater. Wei?t du, was ich glaube? Du schonst dich nicht genug. Aber das Alter verlangt seine Rechte. Du bist mir im Geschaft unentbehrlich, das wei?t du ja sehr genau; aber wenn das Geschaft deine Gesundheit bedrohen sollte, sperre ich es noch morgen fur immer. Das geht nicht. Wir mussen da eine andere Lebensweise fur dich einfuhren. Aber von Grund aus. Du sitzt hier im Dunkel, und im Wohnzimmer hattest du schones Licht. Du nippst vom Fruhstuck, statt dich ordentlich zu starken. Du sitzt bei geschlossenem Fenster, und die Luft wurde dir so gut tun. Nein Vater! Ich werde den Arzt holen und seine Vorschriften werden wir befolgen. Die Zimmer werden wir wechseln, du wirst ins Vorderzimmer ziehen, ich hierher. Es wird keine Veranderung fur dich sein, alles wird mit hinubergetragen. Aber das alles hat Zeit, jetzt lege dich noch ein wenig ins Bett, du brauchst unbedingt Ruhe. Komm, ich werde dir beim Ausziehn helfen, du wirst sehen, ich kann es. Oder willst du gleich ins Vorderzimmer gehn, dann legst du dich vorlaufig in mein Bett. Das ware ubrigens sehr vernunftig. «
Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf mit dem struppigen wei?en Haar auf die Brust hatte sinken lassen.
«Georg», sagte der Vater leise, ohne Bewegung.
Georg kniete sofort neben dem Vater nieder, er sah die Pupillen in dem muden Gesicht des Vaters ubergro? in den Winkeln der Augen auf sich gerichtet.
«Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spa?macher gewesen und hast dich auch mir gegenuber nicht zuruckgehalten. Wie solltest du denn gerade dort einen Freund haben! Das kann ich gar nicht glauben. «
«Denk doch noch einmal nach, Vater», sagte Georg, hob den Vater vom Sessel und zog ihm, wie er nun doch recht schwach dastand, den Schlafrock aus, «jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war ja mein Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch, da? du ihn nicht besonders gern hattest. Wenigstens zweimal habe ich ihn vor dir verleugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer sa?. Ich konnte ja deine Abneigung gegen ihn ganz gut verstehn, mein Freund hat seine Eigentumlichkeiten. Aber dann hast du dich doch auch wieder ganz gut mit ihm unterhalten. Ich war damals noch so stolz darauf, da? du ihm zuhortest, nicktest und fragtest. Wenn du nachdenkst, mu?t du dich erinnern. Er erzahlte damals unglaubliche Geschichten von der russischen Revolution. Wie er z. B. auf einer Geschaftsreise in Kiew bei einem Tumult einen Geistlichen auf einem Balkon gesehen hatte, der sich ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief. Du hast ja selbst diese Geschichte hie und da wiedererzahlt. «
Wahrenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder niederzusetzen und ihm die Trikothose, die er uber den Leinenunterhosen trug, sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim Anblick der nicht besonders reinen Wasche machte er sich Vorwurfe, den Vater vernachlassigt zu haben. Es ware sicherlich auch seine Pflicht gewesen, uber den Waschewechsel seines Vaters zu wachen. Er hatte mit seiner Braut daruber noch nicht ausdrucklich gesprochen, wie sie die Zukunft des Vaters einrichten wollten, aber sie hatten stillschweigend vorausgesetzt, da? der Vater allein in der alten Wohnung bleiben wurde. Doch jetzt entschlo? er sich kurz mit aller Bestimmtheit, den Vater in seinen kunftigen Haushalt mitzunehmen. Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, da? die Pflege, die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu spat kommen konnte.
Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefuhl hatte er, als er wahrend der paar Schritte zum Bett hin merkte, da? an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spiele. Er konnte ihn nicht gleich ins Bett legen, so fest hielt er sich an dieser Uhrkette.
Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich selbst zu und zog dann die Bettdecke noch besonders weit uber die Schulter. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.
«Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?» fragte Georg und nickte ihm aufmunternd zu.
«Bin ich jetzt gut zugedeckt?» fragte der Vater, als konne er nicht nachschauen, ob die Fu?e genug bedeckt seien.
«Es gefallt dir also schon im Bett», sagte Georg und legte das Deckzeug besser um ihn.
«Bin ich gut zugedeckt?» fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen.
«Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt. «
«Nein! » rief der Vater, da? die Antwort an die Frage stie?, warf die Decke zuruck mit einer Kraft, da? sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. «Du wolltest mich zudecken, das wei? ich, mein Fruchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug fur dich, zuviel fur dich! Wohl kenne ich deinen Freund. Er ware ein Sohn