Gregor war aber viel ruhiger geworden. Man verstand zwar also seine Worte nicht mehr, trotzdem sie ihm genug klar, klarer als fruher, vorgekommen waren, vielleicht infolge der Gewohnung des Ohres. Aber immerhin glaubte man nun schon daran, da? es mit ihm nicht ganz in Ordnung war, und war bereit, ihm zu helfen. Die Zuversicht und Sicherheit, mit welchen die ersten Anordnungen getroffen worden waren, taten ihm wohl. Er fuhlte sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreis und erhoffte von beiden, vom Arzt und vom Schlosser, ohne sie eigentlich genau zu scheiden, gro?artige und uberraschende Leistungen. Um fur die sich nahernden entscheidenden Besprechungen eine moglichst klare Stimme zu bekommen, hustete er ein wenig ab, allerdings bemuht, dies ganz gedampft zu tun, da moglicherweise auch schon dieses Gerausch anders als menschlicher Husten klang, was er selbst zu entscheiden sich nicht mehr getraute. Im Nebenzimmer war es inzwischen ganz still geworden. Vielleicht sa?en die Eltern mit dem Prokuristen beim Tisch und tuschelten, vielleicht lehnten alle an der Ture und horchten.
Gregor schob sich langsam mit dem Sessel zur Tur hin, lie? ihn dort los, warf sich gegen die Tur, hielt sich an ihr aufrecht – die Ballen seiner Beinchen hatten ein wenig Klebstoff – und ruhte sich dort einen Augenblick lang von der Anstrengung aus. Dann aber machte er sich daran, mit dem Mund den Schlussel im Schlo? umzudrehen. Es schien leider, da? er keine eigentlichen Zahne hatte, – womit sollte er gleich den Schlussel fassen? – aber dafur waren die Kiefer freilich sehr stark; mit ihrer Hilfe brachte er auch wirklich den Schlussel in Bewegung und achtete nicht darauf, da? er sich zweifellos irgendeinen Schaden zufugte, denn eine braune Flussigkeit kam ihm aus dem Mund, flo? uber den Schlussel und tropfte auf den Boden. «Horen Sie nur», sagte der Prokurist im Nebenzimmer, «er dreht den Schlussel um. » Das war fur Gregor eine gro?e Aufmunterung; aber alle hatten ihm zurufen sollen, auch der Vater und die Mutter: «Frisch, Gregor», hatten sie rufen sollen, «immer nur heran, fest an das Schlo? heran! » Und in der Vorstellung, da? alle seine Bemuhungen mit Spannung verfolgten, verbi? er sich mit allem, was er an Kraft aufbringen konnte, besinnungslos in den Schlussel. Je nach dem Fortschreiten der Drehung des Schlussels umtanzte er das Schlo?; hielt sich jetzt nur noch mit dem Munde aufrecht, und je nach Bedarf hing er sich an den Schlussel oder druckte ihn dann wieder nieder mit der ganzen Last seines Korpers. Der hellere Klang des endlich zuruckschnappenden Schlosses erweckte Gregor formlich. Aufatmend sagte er sich: «Ich habe also den Schlosser nicht gebraucht», und legte den Kopf auf die Klinke, um die Ture ganzlich zu offnen.
Da er die Ture auf diese Weise offnen mu?te, war sie eigentlich schon recht weit geoffnet, und er selbst noch nicht zu sehen. Er mu?te sich erst langsam um den einen Turflugel herumdrehen, und zwar sehr vorsichtig, wenn er nicht gerade vor dem Eintritt ins Zimmer plump auf den Rucken fallen wollte. Er war noch mit jener schwierigen Bewegung beschaftigt und hatte nicht Zeit, auf anderes zu achten, da horte er schon den Prokuristen ein lautes «Oh!» aussto?en – es klang, wie wenn der Wind saust – und nun sah er ihn auch, wie er, der der Nachste an der Ture war, die Hand gegen den offenen Mund druckte und langsam zuruckwich, als vertreibe ihn eine unsichtbare, gleichma?ig fortwirkende Kraft. Die Mutter – sie stand hier trotz der Anwesenheit des Prokuristen mit von der Nacht her noch aufgelosten, hoch sich straubenden Haaren – sah zuerst mit gefalteten Handen den Vater an, ging dann zwei Schritte zu Gregor hin und fiel inmitten ihrer rings um sie herum sich ausbreitenden Rocke nieder, das Gesicht ganz unauffindbar zu ihrer Brust gesenkt. Der Vater ballte mit feindseligem Ausdruck die Faust, als wolle er Gregor in sein Zimmer zurucksto?en, sah sich dann unsicher im Wohnzimmer um, beschattete dann mit den Handen die Augen und weinte, da? sich seine machtige Brust schuttelte.
Gregor trat nun gar nicht in das Zimmer, sondern lehnte sich von innen an den festgeriegelten Turflugel, so da? sein Leib nur zur Halfte und daruber der seitlich geneigte Kopf zu sehen war, mit dem er zu den anderen hinuberlugte. Es war inzwischen viel heller geworden; klar stand auf der anderen Stra?enseite ein Ausschnitt des gegenuberliegenden, endlosen, grauschwarzen Hauses – es war ein Krankenhaus – mit seinen hart die Front durchbrechenden regelma?igen Fenstern; der Regen fiel noch nieder, aber nur mit gro?en, einzeln sichtbaren und formlich auch einzelnweise auf die Erde hinuntergeworfenen Tropfen. Das Fruhstucksgeschirr stand in uberreicher Zahl auf dem Tisch, denn fur den Vater war das Fruhstuck die wichtigste Mahlzeit des Tages, die er bei der Lekture verschiedener Zeitungen stundenlang hinzog. Gerade an der gegenuber liegenden Wand hing eine Photographie Gregors aus seiner Militarzeit, die ihn als Leutnant darstellte, wie er, die Hand am Degen, sorglos lachelnd, Respekt fur seine Haltung und Uniform verlangte. Die Tur zum Vorzimmer war geoffnet, und man sah, da auch die Wohnungstur offen war, auf den Vorplatz der Wohnung hinaus und auf den Beginn der abwarts fuhrenden Treppe.
«Nun», sagte Gregor und war sich dessen wohl bewu?t, da? er der einzige war, der die Ruhe bewahrt hatte, «ich werde mich gleich anziehen, die Kollektion zusammenpacken und wegfahren. Wollt Ihr, wollt Ihr mich wegfahren lassen? Nun, Herr Prokurist, Sie sehen, ich bin nicht starrkopfig und ich arbeite gern; das Reisen ist beschwerlich, aber ich konnte ohne das Reisen nicht leben. Wohin gehen Sie denn, Herr Prokurist Ins Geschaft? Ja? Werden Sie alles wahrheitsgetreu berichten? Man kann im Augenblick unfahig sein zu arbeiten, aber dann ist gerade der richtige Zeitpunkt, sich an die fruheren Leistungen zu erinnern und zu bedenken, da? man spater, nach Beseitigung des Hindernisses, gewi? desto flei?iger und gesammelter arbeiten wird. Ich bin ja dem Herrn Chef so sehr verpflichtet, das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe ich die Sorge um meine Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme, ich werde mich aber auch wieder herausarbeiten. Machen Sie es mir aber nicht schwieriger, als es schon ist. Halten Sie im Geschaft meine Partei! Man liebt den Reisenden nicht, ich wei?. Man denkt, er verdient ein Heidengeld und fuhrt dabei ein schones Leben. Man hat eben keine besondere Veranlassung, dieses Vorurteil besser zu durchdenken. Sie aber, Herr Prokurist, Sie haben einen besseren Uberblick uber die Verhaltnisse, als das sonstige Personal, ja sogar, ganz im Vertrauen gesagt, einen besseren Uberblick, als der Herr Chef selbst, der in seiner Eigenschaft als Unternehmer sich in seinem Urteil leicht zu Ungunsten eines Angestellten beirren la?t. Sie wissen auch sehr wohl, da? der Reisende, der fast das ganze Jahr au?erhalb des Geschaftes ist, so leicht ein Opfer von Klatschereien, Zufalligkeiten und grundlosen Beschwerden werden kann, gegen die sich zu wehren ihm ganz unmoglich ist, da er von ihnen meistens gar nichts erfahrt und nur dann, wenn er erschopft eine Reise beendet hat, zu Hause die schlimmen, auf ihre Ursachen hin nicht mehr zu durchschauenden Folgen am eigenen Leibe zu spuren bekommt. Herr Prokurist, gehen Sie nicht weg, ohne mir ein Wort gesagt zu haben, das mir zeigt, da? Sie mir wenigstens zu einem kleinen Teil recht geben! <<
Aber der Prokurist hatte sich schon bei den ersten Worten Gregors abgewendet, und nur uber die zuckende Schulter hinweg sah er mit aufgeworfenen Lippen nach Gregor zuruck. Und wahrend Gregors Rede stand er keinen Augenblick still, sondern verzog sich, ohne Gregor aus den Augen zu lassen, gegen die Tur, aber ganz allmahlich, als bestehe ein geheimes Verbot, das Zimmer zu verlassen. Schon war er im Vorzimmer, und nach der plotzlichen Bewegung, mit der er zum letztenmal den Fu? aus dem Wohnzimmer zog, hatte man glauben konnen, er habe sich soeben die Sohle verbrannt. Im Vorzimmer aber streckte er die rechte Hand weit von sich zur Treppe hin, als warte dort auf ihn eine geradezu uberirdische Erlosung.
Gregor sah ein, da? er den Prokuristen in dieser Stimmung auf keinen Fall weggehen lassen durfe, wenn dadurch seine Stellung im Geschaft nicht aufs au?erste gefahrdet werden sollte. Die Eltern verstanden das alles nicht so gut; sie hatten sich in den langen Jahren die Uberzeugung gebildet, da? Gregor in diesem Geschaft fur sein Leben versorgt war, und hatten au?erdem jetzt mit den augenblicklichen Sorgen so viel zu tun, da? ihnen jede Voraussicht abhanden gekommen war. Aber Gregor hatte diese Voraussicht. Der Prokurist mu?te gehalten, beruhigt, uberzeugt und schlie?lich gewonnen werden; die Zukunft Gregors und seiner Familie hing doch davon ab! Ware doch die Schwester hier gewesen! Sie war klug; sie hatte schon geweint, als Gregor noch ruhig auf dem Rucken lag. Und gewi? hatte der Prokurist, dieser Damenfreund, sich von ihr lenken lassen; sie hatte die Wohnungstur zugemacht und ihm im Vorzimmer den Schrecken ausgeredet. Aber die Schwester war eben nicht da, Gregor selbst mu?te handeln. Und ohne daran zu denken, da? er seine gegenwartigen Fahigkeiten, sich zu bewegen, noch gar nicht kannte, ohne auch daran zu denken, da? seine Rede moglicher- ja wahrscheinlicherweise wieder nicht verstanden worden war, verlie? er den Turflugel; schob sich durch die Offnung; wollte zum Prokuristen hingehen, der sich schon am Gelander des Vorplatzes lacherlicherweise mit beiden Handen festhielt; fiel aber sofort, nach einem Halt suchend, mit einem kleinen Schrei auf seine vielen Beinchen nieder. Kaum war das geschehen, fuhlte er zum