Der Offizier fa?te sich schnell. «Ich wollte Sie nicht etwa ruhren», sagte er, «ich wei?, es ist unmoglich, jene Zeiten heute begreiflich zu machen. Im ubrigen arbeitet die Maschine noch und wirkt fur sich. Sie wirkt fur sich, auch wenn sie allein in diesem Tale steht. Und die Leiche fallt zum Schlu? noch immer in dem unbegreiflich sanften Flug in die Grube, auch wenn nicht, wie damals, Hunderte wie Fliegen um die Grube sich versammeln. Damals mu?ten wir ein starkes Gelander um die Grube anbringen, es ist langst weggerissen. «
Der Reisende wollte sein Gesicht dem Offizier entziehen und blickte ziellos herum. Der Offizier glaubte, er betrachte die Ode des Tales; er ergriff deshalb seine Hande, drehte sich um ihn, um seine Blicke zu fassen, und fragte: «Merken Sie die Schande»
Aber der Reisende schwieg. Der Offizier lie? fur ein Weilchen von ihm ab; mit auseinandergestellten Beinen, die Hande in den Huften, stand er still und blickte zu Boden. Dann lachelte er dem Reisenden aufmunternd zu und sagte: «Ich war gestern in Ihrer Nahe, als der Kommandant Sie einlud. Ich horte die Einladung. Ich kenne den Kommandanten. Ich verstand sofort, was er mit der Einladung bezweckte. Trotzdem seine Macht gro? genug ware, um gegen mich einzuschreiten, wagt er es noch nicht, wohl aber will er mich Ihrem, dem Urteil eines angesehenen Fremden aussetzen. Seine Berechnung ist sorgfaltig; Sie sind den zweiten Tag auf der Insel, Sie kannten den alten Kommandanten und seinen Gedankenkreis nicht, Sie sind in europaischen Anschauungen befangen, vielleicht sind Sie ein grundsatzlicher Gegner der Todesstrafe im allgemeinen und einer derartigen maschinellen Hinrichtungsart im besonderen, Sie sehen uberdies, wie die Hinrichtung ohne offentliche Anteilnahme, traurig, auf einer bereits etwas beschadigten Maschine vor sich geht – ware es nun, alles dieses zusammengenommen (so denkt der Kommandant), nicht sehr leicht moglich, da? Sie mein Verfahren nicht fur richtig halten? Und wenn Sie es nicht fur richtig halten, werden Sie dies (ich rede noch immer im Sinne des Kommandanten) nicht verschweigen, denn Sie vertrauen doch gewi? Ihren vielerprobten Uberzeugungen. Sie haben allerdings viele Eigentumlichkeiten vieler Volker gesehen und achten gelernt, Sie werden daher wahrscheinlich sich nicht mit ganzer Kraft, wie Sie es vielleicht in Ihrer Heimat tun wurden, gegen das Verfahren aussprechen. Aber dessen bedarf der Kommandant gar nicht. Ein fluchtiges, ein blo? unvorsichtiges Wort genugt. Es mu? gar nicht Ihrer Uberzeugung entsprechen, wenn es nur scheinbar seinem Wunsche entgegenkommt. Da? er Sie mit aller Schlauheit ausfragen wird, dessen bin ich gewi?. Und seine Damen werden im Kreis herumsitzen und die Ohren spitzen; Sie werden etwa sagen: >Bei uns ist das Gerichtsverfahren ein anderes<, oder >Bei uns wird der Angeklagte vor dem Urteil verhort<, oder >Bei uns erfahrt der Verurteilte das Urteil<, oder >Bei uns gibt es auch andere Strafen als Todesstrafen<, oder >Bei uns gab es Folterungen nur im Mittelalter<. Das alles sind Bemerkungen, die ebenso richtig sind, als sie Ihnen selbstverstandlich erscheinen, unschuldige Bemerkungen, die mein Verfahren nicht antasten. Aber wie wird sie der Kommandant aufnehmen? Ich sehe ihn, den guten Kommandanten, wie er sofort den Stuhl beiseite schiebt und auf den Balkon eilt, ich sehe seine Damen, wie sie ihm nachstromen, ich hore seine Stimme – die Damen nennen sie eine Donnerstimme –, nun, und er spricht: >Ein gro?er Forscher des Abendlandes, dazu bestimmt, das Gerichtsverfahren in allen Landern zu uberprufen, hat eben gesagt, da? unser Verfahren nach altem Brauch ein unmenschliches ist. Nach diesem Urteil einer solchen Personlichkeit ist es mir naturlich nicht mehr moglich, dieses Verfahren zu dulden. Mit dem heutigen Tage also ordne ich an – usw. < Sie wollen eingreifen, Sie haben nicht das gesagt, was er verkundet, Sie haben mein Verfahren nicht unmenschlich genannt, im Gegenteil, Ihrer tiefen Einsicht entsprechend halten Sie es fur das menschlichste und menschenwurdigste, Sie bewundern auch diese Maschinerie – aber es ist zu spat; Sie kommen gar nicht auf den Balkon, der schon voll Damen ist; Sie wollen sich bemerkbar machen; Sie wollen schreien; aber eine Damenhand halt Ihnen den Mund zu – und ich und das Werk des alten Kommandanten sind verloren. «
Der Reisende mu?te ein Lacheln unterdrucken; so leicht war also die Aufgabe, die er fur so schwer gehalten hatte. Er sagte ausweichend: «Sie uberschatzen meinen Einflu?; der Kommandant hat mein Empfehlungsschreiben gelesen, er wei?, da? ich kein Kenner der gerichtlichen Verfahren bin. Wenn ich eine Meinung aussprechen wurde, so ware es die Meinung eines Privatmannes, um nichts bedeutender als die Meinung eines beliebigen anderen, und jedenfalls viel bedeutungsloser als die Meinung des Kommandanten, der in dieser Strafkolonie, wie ich zu wissen glaube, sehr ausgedehnte Rechte hat. Ist seine Meinung uber dieses Verfahren eine so bestimmte, wie Sie glauben, dann, furchte ich, ist allerdings das Ende dieses Verfahrens gekommen, ohne da? es meiner bescheidenen Mithilfe bedurfte. «
Begriff es schon der Offizier? Nein, er begriff noch nicht. Er schuttelte lebhaft den Kopf, sah kurz nach dem Verurteilten und dem Soldaten zuruck, die zusammenzuckten und vom Reis ablie?en, ging ganz nahe an den Reisenden heran, blickte ihm nicht ins Gesicht, sondern irgendwohin auf seinen Rock und sagte leiser als fruher: «Sie kennen den Kommandanten nicht; Sie stehen ihm und uns allen – verzeihen Sie den Ausdruck – gewisserma?en harmlos gegenuber; Ihr Einflu?, glauben Sie mir, kann nicht hoch genug eingeschatzt werden. Ich war ja gluckselig, als ich horte, da? Sie allein der Exekution beiwohnen sollten. Diese Anordnung des Kommandanten sollte mich treffen, nun aber wende ich sie zu meinen Gunsten. Unabgelenkt von falschen Einflusterungen und verachtlichen Blicken – wie sie bei gro?erer Teilnahme an der Exekution nicht hatten vermieden werden konnen – haben Sie meine Erklarungen angehort, die Maschine gesehen und sind nun im Begriffe, die Exekution zu besichtigen. Ihr Urteil steht gewi? schon fest; sollten noch kleine Unsicherheiten bestehen, so wird sie der Anblick der Exekution beseitigen. Und nun stelle ich an Sie die Bitte: helfen Sie mir gegenuber dem Kommandanten! «
Der Reisende lie? ihn nicht weiter reden. «Wie konnte ich denn das», rief er aus, «das ist ganz unmoglich. Ich kann Ihnen ebensowenig nutzen als ich Ihnen schaden kann. «
«Sie konnen es», sagte der Offizier. Mit einiger Befurchtung sah der Reisende, da? der Offizier die Fauste ballte. «Sie konnen es», wiederholte der Offizier noch dringender. «Ich habe einen Plan, der gelingen mu?. Sie glauben, Ihr Einflu? genuge nicht. Ich wei?, da? er genugt. Aber zugestanden, da? Sie recht haben, ist es denn nicht notwendig, zur Erhaltung dieses Verfahrens alles, selbst das moglicherweise Unzureichende zu versuchen? Horen Sie also meinen Plan. Zu seiner Ausfuhrung ist es vor allem notig, da? Sie heute in der Kolonie mit Ihrem Urteil uber das Verfahren moglichst zuruckhalten. Wenn man Sie nicht geradezu fragt, durfen Sie sich keinesfalls au?ern; Ihre Au?erungen aber mussen kurz und unbestimmt sein; man soll merken, da? es Ihnen schwer wird, daruber zu sprechen, da? Sie verbittert sind, da? Sie, falls Sie offen reden sollten, geradezu in Verwunschungen ausbrechen mu?ten. Ich verlange nicht, da? Sie lugen sollen; keineswegs; Sie sollen nur kurz antworten, etwa: >Ja, ich habe die Exekution gesehen<, oder >Ja, ich habe alle Erklarungen gehort<. Nur das, nichts weiter. Fur die Verbitterung, die man Ihnen anmerken soll, ist ja genugend Anla?, wenn auch nicht im Sinne des Kommandanten. Er naturlich wird es vollstandig mi?verstehen und in seinem Sinne deuten. Darauf grundet sich mein Plan. Morgen findet in der Kommandatur unter dem Vorsitz des Kommandanten eine gro?e Sitzung aller hoheren Verwaltungsbeamten statt. Der Kommandant hat es naturlich verstanden, aus solchen Sitzungen eine Schaustellung zu machen. Es wurde eine Galerie gebaut, die mit Zuschauern immer besetzt ist. Ich bin gezwungen an den Beratungen teilzunehmen, aber der Widerwille schuttelt mich. Nun werden Sie gewi? auf jeden Fall zu der Sitzung eingeladen werden; wenn Sie sich heute meinem Plane gema? verhalten, wird die Einladung zu einer dringenden Bitte werden. Sollten Sie aber aus irgendeinem unerfindlichen Grunde doch nicht eingeladen werden, so mu?ten Sie allerdings die Einladung verlangen; da? Sie sie dann erhalten, ist zweifellos. Nun sitzen Sie also morgen mit den Damen in der Loge des Kommandanten. Er versichert sich ofters durch Blicke nach oben, da? Sie da sind. Nach verschiedenen gleichgultigen, lacherlichen, nur fur die Zuhorer berechneten Verhandlungsgegenstanden – meistens sind es Hafenbauten, immer wieder Hafenbauten! – kommt auch das Gerichtsverfahren zur Sprache. Sollte es von seiten des Kommandanten nicht oder nicht bald genug geschehen, so werde ich dafur sorgen, da? es geschieht. Ich werde aufstehen und die Meldung von der heutigen Exekution erstatten. Ganz kurz, nur diese Meldung. Eine solche Meldung ist zwar dort nicht ublich, aber ich tue es doch. Der Kommandant dankt mir, wie immer, mit freundlichem Lacheln und nun, er kann sich nicht zuruckhalten, erfa?t er die gute Gelegenheit. >Es wurde eben<, so oder ahnlich