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Aus der Jugendzeit

Aus der Jugendzeit. Иван Сергеевич Тургенев

Deutsch von Adolf Gerstmann (1855-1921)

Telegin und Pawlowna.

Es ist nun schon eine ganze Reihe von Jahren her, da; etwa vierzig Werst von unserer Besitzung auf seinem Erbgute Suchodol ein entfernter Verwandter meiner Mutter lebte; er war in seiner Jugendzeit Gardeoffizier gewesen, hatte dann, da er ein ziemliches Verm;gen befa;, als es ihm beim Milit;r nicht mehr gefiel, seinen Abschied nehmen und sich der Bewirthschaftung seines Gutes widmen k;nnen – und hie; Alexis Sergejewitsch Telegin.

Da er niemals sein Haus verlie;, so kam er nat;rlich auch nicht zu uns auf Besuch; mich aber schickten meine Eltern zweimal in jedem Jahre zu ihm, um ihm, als dem ;ltesten Familienmitglied, eine Aufmerksamkeit zu erweisen. Anf;nglich machte ich diese Besuche in Gesellschaft meines Erziehers, sp;ter allein. Der alte Herr nahm mich immer mit ausnehmender Freundlichkeit bei sich auf, und gew;hnlich dehnte sich mein Besuch so aus, da; ich gleich drei bis vier Tage bei ihm blieb.

Als ich ihn kennen lernte, war er bereits ein Greis; bei meinem ersten Besuche in Suchodol z;hlte ich erst zw;lf Jahre, w;hrend er schon ein Siebziger war. Sein Geburtsjahr fiel zusammen mit dem letzten Regierungsjahr der Kaiserin Elisabeth.

Er lebte ganz allein mit seiner Gattin Melania Pawlowna, die etwa zehn Jahre j;nger als er selbst sein mochte. Aus ihrer Ehe waren zwei T;chter entsprossen, diese waren aber Beide schon seit langen Jahren verheirathet und kamen nur h;chst selten einmal auf das Gut; zwischen ihren Eltern und ihnen war, wie das russische Sprichwort sagt, eine schwarze Katze hindurchgelaufen, und daher mochte es wohl auch kommen, da; Alexis Sergejewitsch nur in ganz vereinzelten F;llen seine Kinder erw;hnte.

Ich sehe im Geiste noch immer das alte Geb;ude vor mir, das aber trotz aller seiner Eigenth;mlichkeiten doch so recht den Eindruck eines Herrensitzes machte, wie ihn unsere Steppenjunker lieben. Das Haus war nur einst;ckig, hatte aber gewaltige Plattformen und Galerien; zu Anfang dieses Jahrhunderts war es aus kolossal dicken Fichtenst;mmen aufgerichtet worden. Aus den ehemaligen Schisdrinski’schen W;ldern, von denen heute auch nicht mehr die kleinste Spur ;brig geblieben ist, waren die Baumriesen herbeigeschafft worden. Das Haus war sehr ger;umig und enthielt eine Unmasse Zimmer und Kammern, die allerdings, um die Wahrheit zu sagen, durchg;ngig sehr niedrig und auch ziemlich dunkel waren. Um den Winterfrost nach M;glichkeit fern zuhalten, hatte man nur ;u;erst kleine Fenster;ffnungen in den W;nden angebracht. Nach dem allgemeinen Gebrauche – jetzt mu; man allerdings sagen: nach dem damaligen allgemeinen Gebrauche, war das Herrenhaus von allen Seiten von Dienerwohnungen und Wirtschaftsgeb;uden umgeben. Auch ein Garten war in n;chster N;he, und wenn er auch nur klein war, so enthielt er doch einzelne B;ume mit ausgezeichnetem Obst – hier wuchsen die saftigsten Aepfel und die schmackhaften Birnen ohne Kerne.

Zehn Werst im Umkreise erstreckte sich die einf;rmige, ebene Steppe; fettes, schwarzes Erdreich, ohne die geringste Abwechselung, keinen einzigen hervorragenden Gegenstand konnte das Auge erblicken, so weit es auch in der Runde streifte – keinen Baum, nicht einmal einen Kirchthurm. Nur weit, weit hinten am Horizont gewahrte man die Umrisse einer Windm;hle mit durchbrochenen Fl;geln.

Alle R;ume des Hauses waren mit altmodischen, einfachen, an Ort und Stelle angefertigten M;beln angef;llt. Eigenth;mlich nahm sich im Salon ein in der N;he des Fensters befindlicher Meilenstein aus mit folgender Inschrift: »Wenn du diesen Salon achtundsechzig Mal durchschreitest, hast du eine Werst zur;ckgelegt; wenn du siebenundachtzig Mal von der ;u;ersten Ecke dieses Salons bis zur rechten Ecke des Billards gehst, so hast du ebenfalls eine Werst zur;ckgelegt« u. s. w.

Was aber Jedem, der dem Herrenhause zum ersten Male einen Besuch abstattete, am allermeisten auffiel, das war die gro;e Menge von Bildern, die ringsum an allen W;nden hingen; es waren zum gr;;ten Theil Werke von Meistern aus der sogenannten ;lteren italienischen Schule – Landschaften, mythologische und religi;se Darstellungen. Da aber alle Gem;lde au;erordentlich nachgedunkelt hatten – zum gro;en Theil hatte sich sogar die einst glatte Fl;che der Leinwand geworfen – so konnte das Auge nichts unterscheiden, als einzelne fleischfarbene Flecke, hier und da wohl auch eine rothe Draperie, die um einen unsichtbaren Rumpf geschlungen sein mochte, einen dem Anschein nach in der Luft schwebenden Bogen, einen zerzausten Baum mit fast blau erscheinendem Laube, oder auch die Brust einer Nymphe, dem Deckel einer Suppenterrine vergleichbar; oder wohl auch eine zerschnittene Melone mit ihren schwarzen Kernen, einen Turban mit Feder oberhalb eines Pferdekopfes, oder endlich das Bruchst;ck einer Apostelfigur, ein zimmetfarbenes Bein mit kr;ftiger Wade und dicken, nach oben gerichteten Zehen.

Den Ehrenplatz im Salon nahm das lebensgro;e Portrait der Kaiserin Katharina II. ein, eine Kopie des bekannten Lampi’schen Bildes. Es war der Gegenstand der besonderen Verehrung, ja – man kann ohne Uebertreibung fast sagen: der Anbetung und Verg;tterung Seitens des Hausherrn. Von den Decken hingen Kronleuchter von Bronze mit gl;sernem Aufputz herab, die alle sehr klein und auch sehr staubig waren.

Alexis Sergejewitsch Telegin war ein kleines, untersetzt gebautes, rundliches M;nnchen mit vollem, etwas blassem, aber doch recht angenehmem Gesicht, schmalen Lippen und mit dichten Brauen ;ber den kleinen, ;u;erst lebhaft blickenden Augen. Die wenigen Haare, die ihm noch geblieben waren, pflegte er nach hinten ;ber zu k;mmen. Erst im Jahre 1812 hatte er aufgeh;rt, das Haar zu pudern. Seine Kleidung bildete unabweislich ein grauer Mantel mit drei auf die Schulter fallenden Kragen, eine gestreifte Weste, hirschlederne Beinkleider, dunkelrothe Saffianstiefel mit herzf;rmigem Ausschnitt und Quasten am oberen Sch;ftenrand; au;erdem trug er ein wei;es baumwollenes Tuch um den Hals geschlungen, ein Jabot, Manschetten und endlich zwei gro;e englische Uhren – in jeder Westentasche befand sich eine. F;r gew;hnlich hielt er in der rechten Hand eine emaillirte Tabacksdose mit spanischem Taback; die Linke st;tzte sich auf einen Stock, dessen silberner Knopf vom langen Gebrauche so abgerieben war, da; er ordentlich gl;nzte.

Telegins Stimme war n;selnd und d;nn; er l;chelte best;ndig. Sein L;cheln hatte einen freundlichen Ausdruck, aber auch etwas Herablassendes und einen leisen Beigeschmack von Selbstgef;lligkeit. D;nn und fein, wie sein Sprechen, h;rte sich auch sein Lachen an. Er hatte die Lebensart aus der Zeit der Kaiserin Katharina beibehalten, und deshalb war er in h;chstem Ma;e h;flich und artig; auch alle seine Bewegungen waren langsam und wie abgemessen und abgerundet. Die Schw;che seiner F;;e hinderte ihn daran, zu gehen; er konnte nur mit kleinen Schritten von einem Sessel zum andern trippeln, und auf diesen lie; er sich dann wieder nieder, oder vielmehr er fiel in den Sessel, der weich und elastisch wie ein Kissen war.

Telegin machte, wie ich schon erz;hlt habe, keine Besuche und hatte auch mit seinen Nachbarn fast gar keinen Verkehr, obgleich er die Gesellschaft und Geselligkeit liebte, denn er war von Natur etwas redselig, um nicht geschw;tzig zu sagen. An Gesellschaft fehlte es in seinem Haufe auch nie; da fanden sich mehrere Nikanor Nikanoritsche, Sebastej Sebastejewitsche, Fidulitsche, Michailowitsche u. s. w. – lauter verarmte Landjunker. Sie lebten unter seinem Dache und trugen zum Theil sogar die von ihm abgelegten M;ntel und Beinkleider. Im andern Theile des Hauses lebte eine h;bsche Anzahl heruntergekommener Edelfrauen; sie trugen Kattunkleider, dunkle T;cher und hielten ihre baumwollenen Arbeitsbeutel zwischen den zusammengepre;ten kn;chernen H;nden – das waren nun wieder die verschiedenen Awdolia’s, Pelagia’s u.s.w. Alexis Sergejewitsch war so gastfrei, da; an seinem Tische fast niemals weniger als f;nfzehn Personen vereint waren.

Unter all’ diesen, die hier aus Mitleid und Erbarmen ern;hrt wurden, traten besonders Pers;nlichkeiten durch ihre Eigenart hervor: ein Zwerg, der den Beinamen Janus oder der Zweigesichtige f;hrte, d;nischer oder, wie Einige behaupteten, j;discher Abstammung, und ferner der verr;ckte F;rst L.

Im Gegensatz zu den Sitten und dem Gebrauche der damaligen Zeit diente der Zwerg durchaus nicht etwa dem Hausherm als ein Gegenstand des Am;sements oder als Narr. Gerade das Gegentheil war der Fall; Janus war immer schweigsam, sah finster und verdrossen darein, zog die Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn und knirschte mit den Z;hnen, sobald irgend Jemand sich einfallen lie;, eine Frage an ihn zu richten. Alexis Sergejewitsch nannte ihn »den Philosophen« und hatte in gewissem Sinne sogar Hochachtung vor ihm. Bei Tisch wurden, sobald die Herrschaft und die G;ste bedient waren, die einzelnen Sch;sseln ihm zuerst vorgesetzt.

»Gott hat ihn heimgesucht,« pflegte Telegin zu sagen; »das war der g;ttliche Wille. Um so weniger darf ich oder ein Anderer noch wagen, ihm zu nahe zu treten.«

»Warum halten Sie ihn denn eigentlich f;r einen Philosophen?« fragte ich einst. Janus konnte mich nicht leiden; sobald ich mich ihm nur n;herte, wurde er ;rgerlich und brummte mit heiserer Stimme: »La; mich in Frieden, aufdringlicher Mensch!«

»Weshalb soll er, Gott beh;te, kein Philosoph sein?« antwortete mir Telegin. »Beachte doch nur einmal, mein Junge, wie gut er zu schweigen versteht.«

»Und weshalb nennt man ihn den Zweigesichtigen?«

»Deshalb, mein Junge, weil er ein Gesicht nur nach au;en zeigt – und nach diesem beurtheilt Ihr ihn nat;rlich, Ihr Naseweise. Er hat aber noch ein anderes Gesicht, das ist sein wirkliches. Dieses verbirgt er. Ich kenne es einzig und allein, und ich liebe ihn deswegen auch, denn dieses zweite Gesicht ist ein gutes Gesicht. Du siehst z.B. hin, und nimmst doch nichts wahr; ich aber, ich sehe und erkenne Alles, was in ihm vorgeht, auch wenn er kein Wort spricht. Ich erkenne es sofort, wenn er mit mir unzufrieden ist. Er ist sehr streng, aber er hat immer Recht. Du, mein B;rschchen, kannst das nat;rlich nicht begreifen, aber glaube es nur, wenn es ein so alter Mann sagt, wie ich es bin.«

Die wirkliche Geschichte des Zwerges Janus – woher er stammte, auf welche Weise er zu Telegin ins Haus gekommen war – blieb aller Welt ein Geheimni;. Dagegen war die Geschichte des F;rsten L. uns Allen wohl bekannt.

Er stammte aus einer reichen und sehr angesehenen Familie, war im Alter von zwanzig Jahren nach Petersburg gekommen und in ein Garderegiment eingetreten. Gleich beim ersten gro;en Empfange im Schlosse bemerkte ihn die

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