Ich esse ja fast gar nicht, und Wasser habe ich hier im Kruge: es steht immer ein Vorrat davon, reines Quellwasser. Nach dem Kruge kann ich selbst langen: den einen Arm kann ich ja noch bewegen. Dann gibt es hier auch ein kleines M;del, ein Waisenkind, das kommt zuweilen her, so dankbar bin ich ihr. Sie war auch eben hier gewesen… Sind Sie ihr nicht begegnet? So ein h;bsches Kind mit wei;em Gesichtchen. Sie bringt mir Blumen her; ich liebe sie so sehr, die Blumen. Gartenblumen haben wir nicht – es waren wohl welche da, sind aber eingegangen. Aber auch die Wiesenblumen sind sch;n; sie duften noch sch;ner als die Gartenblumen. Zum Beispiel die Maigl;ckchen… was gibt es Sch;neres?«
»Ist es dir nicht langweilig, nicht unheimlich, meine arme Lukerja?«
»Was soll ich machen? Ich will nicht l;gen – anfangs war es mir sehr traurig ums Herz; dann gew;hnte ich mich daran, schickte mich darein, es ist nicht so schlimm; andere haben es noch viel schlimmer.«
»Wieso?«
»Mancher hat kein Obdach! Ein anderer ist blind oder taub! Ich aber kann, Gott sei Dank, gut sehen und alles h;ren, alles. Ein Maulwurf w;hlt in der Erde – auch das h;re ich. Ich sp;re auch jeden Geruch, selbst den leisesten! Wenn der Buchweizen im Felde oder die Linde im Garten bl;ht, braucht man mir das gar nicht zu sagen: ich rieche es gleich, wenn nur ein Windhauch her;berkommt. Nein, was soll ich gegen Gott murren? – viele haben es schlimmer als ich. Wenn ich blo; nur dieses bedenke: mancher gesunde Mensch kann leicht s;ndigen; mich hat aber die S;nde selbst verlassen. Neulich reichte mir der Priester, P. Alexej, das Abendmahl und sagte: ›Deine Beichte brauche ich gar nicht zu h;ren: Kann man denn in deiner Lage s;ndigen?‹ Aber ich antwortete ihm: ›Und die S;nden, die man in Gedanken begeht, Hochw;rden?‹ – ›Diese S;nden sind nicht gro;‹ sagte er mir darauf und lachte.«
»Von solchen S;nden habe ich wohl wirklich nicht viel auf dem Gewissen,« fuhr Lukerja fort, »denn ich habe mich gew;hnt, nicht zu denken, und vor allem nicht an das Vergangene zu denken. so vergeht die Zeit schneller.«
Ich war, offen gestanden, erstaunt.
»Du bist aber immer allein, Lukerja; wie kannst du es verhindern, da; dir die Gedanken in den Sinn kommen? Oder schl;fst du immer?«
»Oh, nein, Herr! Schlafen kann ich nicht immer. Gro;e Schmerzen habe ich zwar nicht, aber in meinem Innern, auch in den Knochen ist immer ein Ziehen; es l;;t mich nicht ordentlich schlafen. Nein, ich liege einfach so und denke an nichts; ich f;hle, da; ich lebe, da; ich atme – das ist alles. Ich schaue und horche. Die Bienen im Garten summen; eine Taube setzt sich aufs Dach und girrt; eine Henne kommt mal mit ihren K;chlein her, um die Kr;mel aufzupicken; manchmal stiegt auch ein Spatz oder ein Schmetterling herein – das tut mir wohl. Vor zwei Jahren haben hier in der Ecke sogar Schwalben genistet und Junge ausgebr;tet. Das war so lustig! Eine Schwalbe kommt zum Nest geflogen, setzt sich drauf, f;ttert die Jungen, und weg ist sie. Gleich ist aber schon eine andere da. Manchmal kommt sie gar nicht herein, sondern fliegt nur an der offenen T;r vor;ber – die Jungen fangen aber gleich zu piepsen an und rei;en die Schn;bel auf… Ich erwartete sie auch im folgenden Jahre, aber man sagte mir, ein hiesiger J;ger h;tte sie erschossen. Was f;r einen Gewinn hatte er davon? Die ganze Schwalbe ist doch nicht gr;;er als ein K;fer… Was seid ihr doch f;r b;se Menschen, ihr Herren J;ger!«
»Ich schie;e keine Schwalben,« beeilte ich mich einzuwenden.
»Ein anderes Mal,« fuhr Lukerja fort, »mu;te ich so lachen! Ein Hase kam hereingelaufen, wirklich! Ich wei; nicht, vielleicht verfolgten ihn die Hunde, aber er rannte geradewegs durch die T;re herein!… Er setzte sich ganz nahe von mir hin und sa; lange so da, schnupperte mit der Nase, bewegte den Schnurrbart, ganz wie ein Offizier. Auch mich sah er an. Er begriff also, da; ich ihm nicht gef;hrlich bin. Schlie;lich stand er auf, sprang zur T;re, sah sich an der Schwelle noch einmal um, und weg war er! So spa;ig war er!«
Lukerja sah mich an: ob es nicht spa;ig sei? Ich tat ihr den Gefallen und lachte, sie bi; sich in die ausgetrockneten Lippen.
»Nun, im Winter habe ich es nat;rlich nicht so gut: denn es ist dunkel, ein Licht anzuz;nden ist zu schade, wozu auch? Ich verstehe zwar zu lesen und habe immer gerne gelesen, aber was soll ich lesen? Es gibt hier keine B;cher, und wenn es auch welche g;be, wie soll ich so ein Buch halten? P. Alexej brachte mir mal zur Zerstreuung einen Kalender, als er aber sah, da; das Buch mir nichts n;tzte, holte er es wieder ab. Und wenn es auch dunkel ist, so gibt es doch immer etwas zu h;ren: ein Heimchen zirpt, eine Maus knabbert. – Dann ist es mir so wohl! Nur nicht denken!«
»Manchmal bete ich auch,« fuhr Lukerja nach einer Ruhepause fort. »Aber ich kenne nur wenig Gebete. Was soll ich auch den lieben Gott bel;stigen? Was soll ich von ihm bitten? Er wei; besser als ich, was mir nottut. Er hat mir mein Kreuz gesandt, also liebt er mich. Uns ist befohlen, es so zu verstehen. Ich spreche manchmal das Vaterunser, das Gebet zur heiligen Mutter Gottes, den Psalm zur schmerzhaften Maria – und dann liege ich wieder ganz ohne Gedanken. Und das ist nicht so schlecht!« —
Es vergingen an die zwei Minuten. Ich unterbrach nicht das Schweigen und r;hrte mich nicht auf dem schmalen F;;chen, das mir als Sitz diente. Die grausame steinerne Unbeweglichkeit des vor mir liegenden, lebendigen, ungl;cklichen Wesens hatte sich auch mir mitgeteilt: auch ich war wie erstarrt.
»H;r mal, Lukerja,« begann ich endlich. »H;r, was ich dir vorschlagen m;chte. Wenn du willst, lasse ich dich ins Krankenhaus bringen, in das gute, st;dtische Krankenhaus. Wer wei;, vielleicht wird man dich gesund machen. Jedenfalls wirst du nicht mehr allein sein…«
Lukerja bewegte kaum merklich die Brauen.
»Ach, nein, Herr,« fl;sterte sie besorgt. »Bringen sie mich nicht ins Krankenhaus, lassen Sie mir meine Ruhe. Dort werde ich mich blo; mehr qu;len. – Wie kann man mich gesund machen!… Einmal kam ein Arzt her und wollte mich untersuchen. Ich bat ihn: ›Qu;len Sie mich nicht, um Christi willen.‹ Aber es n;tzte nichts: er fing an, mich hin und her zu wenden, mir die Arme und die Beine zu biegen und zu kneten; er sagte: ›Ich mache es der Wissenschaft wegen; ich bin ja ein angestellter, gelehrter Mensch, und du darfst mir nicht widerstreben, denn ich habe f;r meine M;he einen Orden um den Hals gekriegt und plage mich f;r euch Dummen ab. Er zerrte mich hin und her, nannte mir meine Krankheit – es war ein so schwieriger Name – und fuhr davon. Mir taten aber dann eine ganze Woche alle Knochen weh. Sie sagen: ich sei allein, immer allein. Nein, das bin ich nicht immer. Man besucht mich hier. Ich bin so still und st;re niemand. Die M;dchen aus dem Dorfe kommen mal her und plaudern; oder eine Walfahrerin verirrt sich zu mir und erz;hlt mir von Jerusalem, von Kiew und von anderen heiligen St;dten. Ich f;rchte mich aber nicht vor dem Alleinsein. Es ist mir sogar angenehmer, bei Gott!… Herr, lassen Sie mir meine Ruhe, bringen Sie mich nicht ins Krankenhaus… Ich danke Ihnen, Sie sind so g;tig, aber lassen die mir meine Ruhe, liebster Herr.«
»Nun, wie du willst, wie du willst, Lukerja. Ich wollte ja nur dein Bestes…«
»Ich wei; es, Herr, da; Sie mein Bestes wollen. Aber, liebster Herr, wer kann einem anderen helfen? Wer kann einem anderen in die Seele eindringen? Der Mensch mu; sich selbst helfen! Sie werden es mir nicht glauben, manchmal liege ich so allein da, und es ist mir, als g;be es in der Welt keinen Menschen au;er mir. Nur ich allein bin lebendig! Und es ist mir, als schwebe etwas auf mich herab… Und es kommen mir so seltsame Gedanken!«
»Was f;r Gedanken, Lukerja?«
»Das kann ich Ihnen unm;glich sagen, Herr: man kann es gar nicht erkl;ren. Auch vergesse ich es nachher. Es kommt ;ber mich wie eine Regenwolke, die sich ;ber mich ergie;t, so frisch, so angenehm; was es aber ist, kann ich nachher nicht begreifen! Ich denke mir blo;: wenn ich Menschen um mich h;tte, so w;re dies alles nicht, und ich w;rde wohl nichts au;er meinem Ungl;ck f;hlen.«
Lukerja holte m;hevoll Atem. Ihre Brust wollte ihr nicht gehorchen, genau wie die anderen Glieder.
»Wenn ich Sie so anschaue, Herr,« fing sie von neuem an, »so sehe ich, da; Sie mit mir gro;es Mitleid haben. Bemitleiden Sie mich aber nicht zu sehr, wirklich! Ich will Ihnen zum Beispiel sagen, da; ich auch jetzt manchmal… Sie erinnern sich doch, wie lustig ich einst war? Ein fixes M;del!… also wissen Sie was? Ich pflege auch jetzt noch meine Lieder zu singen.«
»Lieder?… Du?«
»Ja, Lieder, alte Lieder, Reigenlieder, Weihnachtslieder, Dreik;nigslieder, allerlei Lieder! Ich habe doch viele Lieder gekannt und wei; sie noch alle. Nur die Tanzlieder singe ich nicht mehr. Zu meinem jetzigen Berufe passen sie nicht.«
»Wie singst du sie denn… stumm, in dich hinein?«
»Stumm, und auch laut. Sehr laut kann ich nicht, aber man kann mich doch h;ren. Ich erz;hlte Ihnen, da; mich ein M;del besucht. Ein so verst;ndiges Waisenkind. Ich habe sie es also gelehrt; vier Lieder hat sie mir schon abgelauscht. Oder sie glauben mir nicht? Warten Sie, ich will Ihnen gleich…«
Lukerja holte tief Atem… Der Gedanke, da; dieses halbtote Wesen sich zu singen anschickte, weckte in mir ein Grauen. Doch ehe ich etwas sagen konnte, erklang in meinen Ohren ein gedehnter, kaum h;rbarer, doch reiner und richtiger Ton… ihm folgte ein zweiter, ein dritter.