Seele doch lebendig bleibt? Ja, doch zu welchem Zweck? Was kann dabei herauskommen? Haben wir aber ;berhaupt eine Ahnung davon, welchen Zweck alles hat, was um uns geschieht?
Diese Gedanken besch;ftigten Aratow so sehr, da; er beim Abendtee an Platoscha ganz unvermittelt die Frage richtete, ob sie an die Unsterblichkeit der Seele glaube.
Platoscha verstand im ersten Augenblick nicht, was er wollte; dann bekreuzigte sie sich und antwortete: »Wie sollte denn die Seele nicht unsterblich sein?«
»Kann sie dann auch nach dem Tode wirken?« fragte wieder Aratow.
Die Alte antwortete, da; sie wohl f;r uns beten k;nne, das hei;t nur nachdem sie in Erwartung des J;ngsten Gerichts alle Leidensstationen durchgemacht habe. Die ersten vierzig Tage umschwebe sie aber die St;tte, wo sie den Tod erlitten.
»Die ersten vierzig Tage?«
»Ja, und dann beginnen die Leidensstationen.«
Aratow wunderte sich ;ber die Kenntnisse der Tante und ging wieder in sein Kabinett. Und wieder f;hlte er die gleiche Gewalt ;ber sich. Diese Gewalt ;u;erte sich darin, da; er fortw;hrend das Bild Klaras vor sich sah; er sah es mit solchen Einzelheiten, wie er sie bei ihren Lebzeiten wohl gar nicht bemerkt hatte; er sah… er sah ihre Finger, ihre N;gel, die Haarstr;hnen an den Wangen unterhalb der Schl;fen, ein kleines Muttermal unter dem linken Auge; er sah die Bewegungen ihrer Lippen, Nasenfl;gel, Augenbrauen; ihren Gang, und wie sie den Kopf ein wenig nach rechts geneigt hielt: Alles sah er! Er sah es ganz ohne Bewunderung, er mu;te es aber unausgesetzt sehen und unausgesetzt daran denken.
Doch in der ersten Nacht nach seiner R;ckkehr tr;umte er nicht von ihr. Er war sehr m;de und schlief fest wie ein Toter. Als er aber erwachte, trat sie sofort wieder in sein Zimmer und blieb darin wie eine Hausfrau; als ob sie sich mit ihrem freiwilligen Tod das Recht erkauft h;tte, ohne ihn zu fragen, bei ihm aus- und einzugehen.
Er nahm ihre Photographie vor, begann sie zu reproduzieren und zu vergr;;ern. Dann fiel es ihm ein, das Bild f;r das Stereoskop einzurichten. Das machte ihm nicht wenig Arbeit. Schlie;lich brachte er es doch fertig.
Er zuckte zusammen, als er durch die Linse ihre Figur sah, die den Anschein von K;rperlichkeit angenommen hatte. Sie war aber grau, wie verstaubt, und die Augen – die Augen blickten zur Seite, wie wenn sie sich von ihm wegwandte. Er stand lange da, blickte lange in die Augen, als erwarte er, da; sie sich auf ihn richten. Er kniff sogar seine Augen zusammen. Die ihrigen aber blieben unbeweglich, und ihre Figur bekam etwas Puppenhaftes.
Er lie; das Bild liegen, warf sich in einen Sessel, holte das herausgerissene Tagebuchblatt mit der unterstrichenen Zeile hervor und dachte: Man sagt, da; Verliebte die Zeilen k;ssen, die von einer geliebten Hand herr;hren, ich habe aber diesen Wunsch nicht – auch die Handschrift erscheint mir nicht sch;n. Doch in dieser Zeile ist mein Gerichtsurteil enthalten.
Da fiel ihm das Versprechen ein, das er Anna wegen des Artikels gegeben hatte. Er setzte sich hin und versuchte zu schreiben. Es wurde aber so verlogen, so hochtrabend, vor allem so verlogen, als ob er weder an die Worte, die er schrieb, noch an seine eigenen Gef;hle glaubte. Auch Klara selbst kam ihm so unbekannt und unverst;ndlich vor! Sie lie; sich gar nicht anfassen.
Nein! sagte er sich und legte die Feder beiseite. Entweder ist das Schreiben ;berhaupt nicht meine Sache, oder ich mu; noch abwarten!
Er dachte wieder an seinen Besuch bei den Milowidows und an die Erz;hlung Annas, dieser guten, herrlichen Anna… Das von ihr gebrauchte Wort »unber;hrte« kam ihm pl;tzlich in den Sinn; es versengte und erleuchtete seine Seele.
»Ja«, sagte er laut. »Sie ist unber;hrt, auch ich bin unber;hrt. Das ist es, was ihr diese Gewalt ;ber mich gibt!«
Er mu;te wieder an die Unsterblichkeit der Seele, an das Leben jenseits des Grabes denken. – Hei;t es denn nicht in der Bibel: »Tod, wo ist dein Stachel?« Und bei Schiller: »Auch die Toten sollen leben?« Wohl bei Mickiewicz hatte er gelesen: »Ich werde bis ans Ende der Zeiten lieben – und auch nach dem Ende der Zeiten!« Und ein englischer Dichter hat gesagt: »Die Liebe ist st;rker als der Tod!«
Die Bibelstelle machte auf Aratow den gr;;ten Eindruck. Er wollte die Stelle nachschlagen. Und weil er keine eigene Bibel besa;, bat er Tante Platoscha um die ihrige. Sie war sehr erstaunt, holte aber ein uraltes Buch in verbogenem, mit Wachstropfen bedecktem Ledereinband mit Messingschlie;en hervor und h;ndigte es Aratow aus.
Er ging damit zur;ck in sein Zimmer, konnte lange die Stelle, die er suchte, nicht finden – fand daf;r aber eine andere: »Niemand hat gr;;ere Liebe, denn die, da; er sein Leben lasset f;r seine Freunde.« (Johannis, XV, 13.)
Er sagte sich: Es sollte anders hei;en: Niemand hat gr;;ere Gewalt…
Und wenn sie ihr Leben gar nicht f;r mich gelassen hat? Wenn sie nur darum Hand an sich gelegt hat, weil das Leben ihr eine Last war? Wenn sie schlie;lich gar nicht einer Liebeserkl;rung wegen zum Stelldichein gekommen war?
In diesem Augenblick erschien vor ihm Klara, so wie er sie vor der Trennung auf dem Boulevard gesehen hatte. Er erinnerte sich ihres wehm;tigen Ausdrucks, ihrer Tr;nen und ihrer Worte: »Ach, Sie haben ja nichts verstanden!…«
Nein, er durfte nicht mehr zweifeln, wof;r und f;r wen sie ihr Leben gelassen hatte.
So verging der ganze Tag bis zum Abend.
XV
Aratow ging fr;h zu Bett; er wollte eigentlich noch nicht schlafen, hoffte aber im Bett Ruhe zu finden. Die Spannung der Nerven erm;dete ihn viel mehr als die physische Abspannung der Reise. Wie gro; auch seine M;digkeit war, einschlafen konnte er doch nicht. Er versuchte zu lesen, doch die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Er blies die Kerze aus, und in seinem Zimmer wurde es dunkel. Er lag aber noch immer schlaflos mit geschlossenen Augen da.
Pl;tzlich kam es ihm vor, als ob ihm jemand etwas ins Ohr fl;stere… Es ist das Herzklopfen, das Rauschen des Blutes, dachte er sich. Das Gefl;ster ging aber in zusammenh;ngende Rede ;ber. Jemand sprach russisch, hastig, klagend, doch unverst;ndlich. Er konnte kein einziges Wort verstehen. Es war aber Klaras Stimme!
Aratow ;ffnete die Augen, setzte sich auf und st;tzte sich in die Ellenbogen. Die Stimme klang etwas leiser, fuhr aber in ihrer klagenden, hastigen, noch immer unverst;ndlichen Rede fort.
Es war zweifellos Klaras Stimme!
Unsichtbare Finger liefen ;ber die Tasten des Pianinos. Dann erklang wieder die Stimme. Zuerst gedehnte T;ne, wie Seufzer – immer die gleichen. Und dann einzelne verst;ndliche Worte: »Rosen… Rosen… Rosen…«
»Rosen«, fl;sterte Aratow nach. »Ach ja! Das sind ja die Rosen, die ich im Traume auf dem Kopfe jenes Wesens gesehen habe.«
»Rosen…« klang es wieder.
»Bist du es?« fragte Aratow im gleichen Fl;sterton.
Die Stimme war pl;tzlich verstummt.
Aratow wartete, wartete und lie; den Kopf auf das Kissen sinken.
Eine Geh;rhalluzination, sagte er sich. Wenn sie aber wirklich hier in der N;he ist? Wenn ich sie erblicke, werde ich da erschrecken? Oder mich freuen? Warum sollte ich erschrecken? Und wor;ber sollte ich mich freuen? H;chstens dar;ber, da; es ein Beweis f;r die Existenz einer anderen Welt, der Unsterblichkeit der Seele w;re. Und wenn ich auch etwas sehe, so kann es ;brigens auch nur eine Gesichtshalluzination sein.
Er z;ndete aber dennoch die Kerze an und lie; den Blick schnell, nicht ohne eine gewisse Angst, ;ber das ganze Zimmer schweifen, entdeckte aber darin nichts Au;ergew;hnliches. Er stand auf, ging zum Stereoskop und sah wieder die gleiche graue Puppe mit den auf die Seite gerichteten Augen. Die Angst machte einem Gef;hl von #196;rger Platz. Es war, wie wenn er sich in seinen Erwartungen get;uscht h;tte; auch die Erwartungen selbst kamen ihm jetzt l;cherlich vor.
»Das ist ja schlie;lich dumm!« murmelte er. Er legte sich wieder hin und blies die Kerze aus. Und wieder wurde es im Zimmer stockfinster.
Aratow beschlo; diesmal einzuschlafen. Aber eine neue Empfindung bem;chtigte sich seiner. Es schien ihm, als ob jemand in der Mitte des Zimmers nicht weit von ihm stehe und kaum wahrnehmbar atme. Er wandte sich rasch um und schlug die Augen auf. Was konnte er aber in der undurchdringlichen Finsternis sehen? Er begann nach einem Z;ndholz auf dem Nachttisch zu suchen, und pl;tzlich war es ihm, als ziehe ein weicher, lautloser Wirbelwind durch das ganze Zimmer, ;ber ihn, durch ihn hindurch, und das Wort »Ich!« klang deutlich in seinen Ohren.
»Ich!… Ich!…«
Es vergingen einige Augenblicke, ehe er die Kerze anz;nden konnte.
Im Zimmer war wieder nichts zu sehen, und er h;rte auch nichts mehr au;er dem schnellen Pochen seines eigenen Herzens. Er trank ein Glas Wasser und blieb regungslos, den Kopf in eine Hand gest;tzt, liegen. Er wartete.
Er dachte: Ich will warten. Entweder ist alles Unsinn oder sie ist hier. Sie wird doch nicht mit mir wie die Katze mit der Maus spielen! Er wartete, er wartete lange, so lange, da; die Hand, in die er den Kopf st;tzte, einschlief. Doch keine der fr;heren Empfindungen wollte sich wiederholen. Zweimal fielen ihm die Augen zu. Er schlug sie jedesmal wieder auf; es schien ihm wenigstens, da; er sie aufschlug. Allm;hlich richteten sie sich auf die T;r und blieben an ihr haften. Die Kerze war heruntergebrannt, und das Zimmer verdunkelte sich wieder. Die T;r hob sich als l;nglicher wei;er Fleck im Halbdunkel ab. Dieser Fleck regte sich, wurde kleiner, verschwand, und an seiner Statt erschien an der Schwelle eine weibliche Gestalt. Aratow sah gespannt hin: Es war Klara! Diesmal blickte sie ihm gerade ins Gesicht und bewegte sich auf ihn zu. Sie hatte auf dem Kopf einen Kranz roter Rosen.
Er zuckte zusammen und setzte sich auf.
Vor ihm stand seine Tante in wei;er Nachtjacke und einer Nachthaube mit gro;er roter Schleife.
»Platoscha!« brachte er mit M;he hervor. »Sind Sie es?«
»Ja, ich«, antwortete Piatonida Iwanowna. »Ich bin es, Jascha.« – »Warum sind Sie hergekommen?«
»Du hast mich ja geweckt. Anfangs hast du lange gest;hnt, dann pl;tzlich aufgeschrien: ›Zur