Hilfe!‹ «
»Habe ich geschrien?«
»Ja, und mit so heiserer Stimme: ›Zur Hilfe!‹ Ich dachte mir: Mein Gott! Ist er am Ende krank? Also kam ich her. F;hlst du dich wohl?«
»Ja, vollkommen.«
»Dann hast du wohl einen b;sen Traum gehabt. Willst du, da; ich ein wenig mit Weihrauch r;uchere?«
Aratow blickte die Tante noch einmal aufmerksam an und lachte pl;tzlich laut auf. Die gute Alte in Haube und Nachtjacke, mit dem erschrockenen langgezogenen Gesicht war tats;chlich recht komisch anzuschauen. Alles Geheimnisvolle, was ihn soeben umschwebt und bedr;ckt hatte, der ganze Zauber war mit einem Male verflogen.
»Nein, liebste Platoscha, bitte, nicht!« sagte er. »Entschuldigen Sie bitte, da; ich Sie, ohne es zu wollen, geweckt habe. Schlafen Sie wohl, auch ich werde einschlafen.«
Platonida Iwanowna blieb noch eine Weile stehen, zeigte auf die Kerze, brummte: »Warum l;schst du sie nicht aus? Wie leicht kann ein Ungl;ck geschehen!« und konnte sich nicht enthalten, ihn beim Weggehen zu bekreuzigen.
Aratow versank sofort in Schlaf und schlief bis zum Morgen durch. Er stand in recht guter Stimmung auf, obwohl ihm irgend etwas leid tat. Er f;hlte sich leicht und frei.
Das sind romantische Einf;lle! sagte er sich mit einem L;cheln.
Er warf weder einen Blick ins Stereoskop noch auf das von ihm herausgerissene Tagebuchblatt. Doch gleich nach dem Fr;hst;ck begab er sich zu Kupfer.
Er f;hlte dunkel, was ihn zu ihm hinzog.
XVI
Aratow traf seinen sanguinischen Freund zu Hause an. Er sprach mit ihm ;ber dies und jenes, machte ihm Vorw;rfe, da; er ihn und die Tante ganz vergessen habe, h;rte von ihm neue Lobhymnen auf das goldene Herz der F;rstin, von der Kupfer soeben aus Jaroslawl ein mit Fischschuppen besticktes K;ppchen zum Geschenk bekommen hatte.
Pl;tzlich setzte er sich vor Kupfer hin, blickte ihm gerade in die Augen und erkl;rte, da; er in Kasan gewesen sei.
»Du warst in Kasan? Wozu?«
»Ich wollte einiges ;ber diese… Klara Militsch erfahren.«
»;ber die, die sich vergiftet hat?«
»Ja.«
Kupfer sch;ttelte den Kopf. »So einer bist du gar! Und stellst dich so still! Tausend Werst f;hrst du hin, tausend Werst zur;ck – und wozu? Warum? Wenn doch wenigstens irgendein Frauenzimmer im Spiele w;re! Dann w;rde ich alles verstehen. Alles! Jeden Wahnsinn!« Kupfer zerzauste sich das Haar. »Aber nur um Material zu sammeln, wie ihr gelehrten M;nner es nennt. Ich danke! Dazu gibt es statistische Komitees! Nun, hast du die Alte und die Schwester kennengelernt? Ein pr;chtiges M;dchen, nicht wahr?«
»Ja, ein pr;chtiges M;dchen«, best;tigte Aratow. »Sie hat mir viel Interessantes erz;hlt.«
»Hat sie dir auch gesagt, wie Klara sich vergiftet hat?«
»Was hei;t… wie?«
»Auf welche Weise?«
»Nein. Sie war ja noch zu sehr ersch;ttert. Ich wagte nicht, sie zu viel zu fragen. War es denn irgendwie au;ergew;hnlich?«
»Gewi;. Stell dir nur vor. Sie mu;te an jenem Tag spielen, und sie spielte auch. Sie nahm das Fl;schchen mit dem Gift mit ins Theater, trank es vor dem ersten Akt aus und spielte den ganzen Akt zu Ende. Mit dem Gift im Magen! Diese Willensst;rke! Dieser Charakter! Man sagt, da; sie noch keine Rolle mit solchem Gef;hl, mit solchem Feuer gespielt habe! Das Publikum ahnte nichts, klatschte und rief Bravo. Kaum war aber der Vorhang gefallen, als auch sie auf die B;hne fiel. Sie bekam Kr;mpfe, Kr;mpfe; und nach einer Stunde gab sie den Geist auf! Habe ich es dir denn noch nicht erz;hlt? Es stand auch in den Zeitungen!«
Aratow f;hlte pl;tzlich seine H;nde erkalten und etwas in seiner Brust zittern.
»Nein, du hast es mir noch nicht erz;hlt«, sagte er schlie;lich. »Wei;t du nicht was f;r ein St;ck es war?«
Kupfer versuchte sich zu besinnen. »Man hat mir das St;ck wohl genannt – ein betrogenes M;dchen kommt darin vor. Es wird wohl irgendein Drama gewesen sein. Klara war f;r dramatische Rollen wie geboren. Selbst ihr #196;u;eres… Ja, wo willst du denn hin?« unterbrach sich Kupfer, als er Aratow nach der M;tze greifen sah.
»Ich f;hle mich nicht ganz wohl«, antwortete Aratow. »Auf Wiedersehen. Ich komme ein anderes Mal.«
Kupfer hielt ihn auf und blickte ihm ins Gesicht. »Was bist du doch f;r ein nerv;ser Mensch! Schau dich nur an… Bist wei; wie Kreide.«
»Mir ist nicht ganz wohl«, wiederholte Aratow. Er befreite sich aus Kupfers Armen und ging nach Hause. Erst jetzt wurde es ihm klar, da; er zu Kupfer mit einer einzigen Absicht gegangen war, n;mlich mit ihm ;ber Klara zu sprechen.
»;ber die wahnsinnige, unselige Klara…«
Als er aber nach Hause kam, beruhigte er sich wieder einigerma;en.
Die n;heren Umst;nde des Selbstmordes machten zun;chst einen ersch;tternden Eindruck auf ihn. Sp;ter aber kam ihm dieses Spiel »mit dem Gift im Magen«, wie Kupfer sich ausgedr;ckt hatte, als eine h;;liche Phrase, als ein Bravourst;ck vor, und er bem;hte sich, nicht mehr daran zu denken, um nicht ein Gef;hl von Ekel in sich aufkommen zu lassen.
Als er beim Mittagessen der Tante Platoscha gegen;bersa;, erinnerte er sich pl;tzlich an die mittern;chtliche Erscheinung mit der kurzen Nachtjacke und der gro;en Schleife an der Haube (wozu hat sie an der Haube diese Schleife?), an ihre ganze komische Gestalt, die wie der Signalpfiff des Regisseurs in einem phantastischen Ballett alle Visionen zu Staub zerfallen machte. Er veranla;te sogar Platoscha, ihm noch einmal zu erz;hlen, wie sie seinen Aufschrei geh;rt habe, wie sie aufgesprungen sei und im ersten Augenblick vor Schreck weder ihre noch seine T;r habe finden k;nnen und so weiter. Abends spielte er mit ihr wieder Karten und zog sich in sein Zimmer zur;ck, etwas traurig, doch ziemlich ruhig.
Aratow dachte nicht an die bevorstehende Nacht und f;rchtete sie nicht: Er war ;berzeugt, da; er sie gut verbringen w;rde. Der Gedanke an Klara erwachte in ihm nur ab und zu; es fiel ihm aber jedesmal ein, wie »theatralisch« sie sich umgebracht hatte, und er wandte sich von ihr wieder ab. Dieses H;;liche verscheuchte jede andere Erinnerung an sie. Er warf einen Blick ins Stereoskop, und es kam ihm vor, da; sie sich nur darum von ihm wegwandte, weil sie sich sch;mte. An der Wand ;ber dem Stereoskop hing das Bildnis seiner Mutter. Aratow nahm es vom Nagel, betrachtete es lange, k;;te es und steckte es behutsam in die Schublade. Warum tat er es? Weil dieses Bild nicht in der N;he jenes anderen weiblichen Wesens bleiben durfte oder aus irgendeinem anderen Grund? Er gab sich keine Rechenschaft dar;ber. Das Bild der Mutter brachte ihm aber seinen Vater in Erinnerung, den Vater, den er einst in diesem selben Zimmer, auf diesem selben Bett hatte sterben sehen.
Was denkst du dir dar;ber, Vater? wandte er sich in Gedanken an ihn. Du hast doch das alles verstanden, hast auch an die Schillersche Geisterwelt geglaubt. Gib mir nun einen Rat!
»Der Vater w;rde mir raten, diesen ganzen Unsinn bleibenzulassen!« sagte Aratow laut und griff nach einem Buch. Er konnte aber doch nicht lesen; er f;hlte eine seltsame Schwere in seinem ganzen K;rper und ging fr;her als sonst zu Bett, fest davon ;berzeugt, da; er sofort einschlafen werde.
Er schlief auch wirklich sofort ein, aber seine Hoffnung auf eine friedliche Nacht ging nicht in Erf;llung.
XVII
Es hatte noch nicht Mitternacht geschlagen, als er einen ungew;hnlichen, unheildrohenden Traum hatte.
Es tr;umte ihm, da; er sich in einem reichen Gutshaus befinde, dessen Besitzer er sei. Er hat erst vor kurzem das Haus und das dazugeh;rige Gut gekauft. Und er denkt sich immer; Jetzt ist es gut, sehr gut, es wird aber ein schlechtes Ende nehmen! Vor ihm scharwenzelt ein kleines M;nnchen, sein Gutsverwalter; er lacht immer, verbeugt sich und will Aratow zeigen, wie sch;n alles im Haus und auf dem Gut eingerichtet sei.
»Bitte sch;n, bitte sch;n«, sagte er, bei jedem Worte kichernd, »schauen Sie nur, wie gut alles eingerichtet ist! Da sind die Pferde – was f;r herrliche Pferde!«
Aratow sieht eine Reihe riesengro;er Pferde. Sie stehen im Stall mit dem R;cken zu ihm; sie haben wunderbare M;hnen und Schweife. Als Aratow an ihnen vorbeigeht, wenden sie ihre K;pfe nach ihm um und fletschen unangenehm die Z;hne.
Es ist wohl sch;n, wird aber ein schlechtes Ende nehmen!, denkt sich Aratow.
»Bitte sch;n, bitte sch;n!« sagt wieder der Verwalter. »Kommen Sie in den Garten, schauen Sie nur, was f;r herrliche #196;pfel Sie haben!«
Die #196;pfel sind wirklich herrlich, rot und rund; wie Aratow sie aber genauer anschaut, werden sie runzlig und fallen zu Boden.
Das wird ein schlechtes Ende nehmen!, denkt er sich.
»Da ist der See«, lallt der Verwalter, »schauen Sie nur, wie blau und wie glatt er ist! Da ist auch der goldene Nachen. Wollen Sie nicht ein wenig spazierenfahren? Er f;hrt ganz von selbst.«
Nein, ich setze mich nicht hinein!, denkt sich Aratow, es wird ein schlechtes Ende nehmen! Und er setzt sich doch in den Nachen. Auf dem Boden des Nachens liegt zusammengekauert ein kleines Gesch;pf, einem Affen ;hnlich; es h;lt ein Fl;schchen mit einer dunklen Fl;ssigkeit in den Pfoten.
»Haben Sie nur keine Angst«, ruft ihm der Verwalter vom Ufer nach. »Es ist nichts! Es ist der Tod! Gl;ckliche Reise!«
Der Nachen f;hrt schnell dahin. Pl;tzlich aber kommt ein Wirbelwind, nicht wie der gestrige lautlose, weiche – nein, ein schwarzer, schrecklicher, heulender Wirbelwind! Alles dreht sich, und Aratow sieht mitten in der wirbelnden Finsternis Klara in ihrem Theaterkost;m: Sie f;hrt ein Fl;schchen an die Lippen, aus der Ferne klingen Bravorufe, und eine rohe Stimme schreit Aratow ins Ohr: »Du glaubtest wohl, da; es mit einer Kom;die enden wird? Nein, es ist eine Trag;die! Eine Trag;die!«
Aratow erwacht, am ganzen Leibe zitternd. Im Zimmer ist es gar nicht finster. Von irgendwo kommt ein schwacher Schimmer, der alle Gegenst;nde mit traurigem, unbeweglichem Licht ;bergie;t. Aratow gibt sich keine Rechenschaft dar;ber, woher das Licht kommt. Er f;hlt nur das eine: Klara ist hier, in diesem Zimmer. Er f;hlt ihre N;he. Er ist wieder und f;r immer in ihrer Gewalt!
Aus seinen Lippen dringt der Schrei: »Klara, bist du hier?«
»Ja!« ert;nt es deutlich mitten im unbeweglich erleuchteten Zimmer.
Aratow wiederholt lautlos seine Frage. – »Ja!« t;nt es