warf einen Blick auf den Spiegel, an dem er eben vorbeiging. Was ist denn an mir Besonderes? Bin ich denn besonders h;bsch? Ein Gesicht wie jedes andere… ;brigens war auch sie keine Sch;nheit.
Keine Sch;nheit, aber welch ein ausdrucksvolles Gesicht! Unbeweglich, und doch so ausdrucksvoll! So ein Gesicht habe ich doch noch nie gesehen. Sie hat auch Talent – sie hatte es vielmehr. Ein wildes, unentwickeltes, sogar rohes, aber doch ein zweifelloses Talent… Auch darin war ich ungerecht gegen sie. Aratow dachte an jenen literarisch-musikalischen Nachmittag zur;ck und merkte, da; er sich eines jeden von ihr gesprochenen oder gesungenen Wortes, jeder Ton;nderung mit au;erordentlicher Sch;rfe erinnerte… Das w;re doch unm;glich, wenn sie gar kein Talent gehabt h;tte.
Und jetzt ruht das alles im Grabe, in das sie sich selbst gest;rzt hat. Ich bin dabei unbeteiligt. Mich trifft keine Schuld! Es w;re sogar l;cherlich zu glauben, da; ich daran irgendwie schuldig sei. Aratow ging wieder der Gedanke durch den Kopf, da; sein Benehmen beim Stelldichein unbedingt habe entt;uschen m;ssen. Darum hatte sie ja auch beim Abschiednehmen so grausam aufgelacht. Wo sind auch die Beweise daf;r, da; sie sich aus Liebesgram vergiftet hat? Diese Zeitungskorrespondenten schreiben ja jeden Selbstmord ungl;cklicher Liebe zu! Solchen Naturen wie Klara erscheint das Leben oft unertr;glich und langweilig. Ja, langweilig. Kupfer hat recht: Das Leben machte ihr einfach keine Freude mehr.
Trotz der Erfolge und Ovationen? Aratow wurde nachdenklich. Die psychologische Analyse, der er sich jetzt hingab, machte ihm sogar Vergn;gen. Er ahnte selbst nicht, welche Bedeutung f;r ihn, der bisher noch niemals mit Frauen in Ber;hrung gekommen war, diese gespannte Untersuchung einer weiblichen Seele hatte.
Folglich fuhr er in seinen Betrachtungen fort, folglich gab ihr die Kunst keine Befriedigung und vermochte die Leere ihres Lebens nicht zu f;llen. Die echten K;nstler leben ja nur f;r die Kunst und f;r das Theater. Alles ;brige erbla;t vor dem, was sie f;r ihren Beruf halten… Sie war eben Dilettantin!
Aratow wurde wieder nachdenklich. Nein, das Wort »Dilettantin« pa;te so wenig zu ihrem Gesicht, zum Ausdruck ihrer Augen.
Vor ihm schwebte wieder das Bild Klaras mit den auf ihn gerichteten tr;nenerf;llten Augen und den zusammengepre;ten, an die Lippen gedr;ckten H;nden.
»Ach, nicht doch, nicht doch!« fl;sterte er: »Wozu?«
So verging der ganze Tag. Beim Mittagessen unterhielt er sich viel mit Tante Platoscha und fragte sie nach den alten Zeiten aus, an die sie sich ;brigens schlecht erinnerte und von denen sie kaum etwas sagen konnte, da sie ;berhaupt wenig redegewandt war und in ihrem ganzen Leben au;er ihrem Jascha kaum etwas bemerkt hatte. Sie freute sich nur dar;ber, da; er sich pl;tzlich so freundlich und liebensw;rdig zeigte. Gegen Abend war Aratow schon so ruhig, da; er mit der Tante sogar einige Partien Karten spielte.
So verging der Tag. Aber die Nacht…
XI
Die Nacht begann recht gut; er schlief schnell ein, und als die Tante zu ihm auf den Fu;spitzen hereinkam, um den Schlafenden, wie sie es jede Nacht tat, dreimal zu bekreuzen, atmete er ruhig wie ein Kind. Aber kurz vor Tagesanbruch hatte er einen Traum.
Es tr;umte ihm: Er ging ;ber eine leere steinige Steppe unter einem niederen Himmel. Zwischen den Steinen wand sich ein Pfad; er ging diesen Pfad entlang. Pl;tzlich erhob sich vor ihm etwas wie ein leichtes W;lkchen. Er sah es aufmerksam an; das W;lkchen verwandelte sich in ein weibliches Wesen in wei;em Kleid mit hellem G;rtel um die H;ften. Sie wollte von ihm weglaufen. Er konnte weder ihr Gesicht noch ihre Haare sehen: Ein langer Schleier verdeckte sie. Er wollte sie unbedingt einholen und ihr in die Augen blicken. Wie sehr er auch seine Schritte beschleunigte, sie war schneller als er.
Auf dem Pfad lag ein Stein, breit und flach wie eine Grabplatte. Der Stein versperrte ihr den Weg. Sie blieb stehen. Aratow holte sie ein. Sie wandte sich zu ihm um, er konnte aber ihre Augen auch jetzt nicht sehen – sie waren geschlossen. Ihr Gesicht war wei; wie Schnee, die H;nde hingen unbeweglich herab. Sie glich einer Statue.
Langsam, ohne auch nur ein Glied zu biegen, beugt sie sich zur;ck und l;;t sich auf die Steinplatte sinken… Aratow liegt im Nu an ihrer Seite, ausgestreckt wie eine Grabfigur, und seine H;nde sind wie bei einem Toten gefaltet.
Pl;tzlich erhob sie sich und entfernte sich von ihm. Auch Aratow wollte aufstehen, konnte sich aber weder r;hren noch die H;nde heben. Er konnte ihr nur voller Verzweiflung nachblicken.
Sie wandte sich pl;tzlich um, und er erblickte helle, lebendige Augen in einem lebendigen, doch unbekannten Gesicht. Sie lachte, sie winkte ihm mit der Hand, und er konnte sich noch immer nicht r;hren.
Sie lachte auf und entfernte sich von ihm, lustig mit dem Kopfe nickend, auf dem pl;tzlich ein Kranz aus kleinen roten Rosen aufleuchtete.
Aratow wollte aufschreien, wollte diesen schrecklichen Alpdruck verscheuchen.
Pl;tzlich verdunkelte sich alles, und sie kehrte zu ihm zur;ck. Es war nicht mehr jene unbekannte Statue: Es war Klara. Sie blieb vor ihm stehen, kreuzte die Arme und sah ihn streng und unverwandt an. Ihre Lippen waren zusammengepre;t, Aratow glaubte aber die Worte zu h;ren: »Wenn du wissen willst, wer ich bin, so reise hin!«
»Wohin?« fragte er.
»Dorthin!« antwortete die klagende Stimme »Dorthin!«
Aratow erwachte.
Er setzte sich im Bett auf, z;ndete die Kerze auf dem Nachttischchen an, stand aber nicht auf, sondern sa; lange, ganz kalt vor Entsetzen, da und lie; die Blicke langsam um sich schweifen. Es war ihm, als ob mit ihm w;hrend der Nacht etwas vorgefallen w;re, als ob sich etwas in ihm festgesetzt, sich seiner bem;chtigt h;tte. »Ist es denn m;glich?« fl;sterte er wie geistesabwesend. »Gibt es denn eine solche Gewalt?«
Er konnte nicht l;nger im Bett bleiben. Er zog sich leise an und ging bis zum Morgen in seinem Zimmer auf und ab. Doch seltsam: An Klara dachte er keinen Augenblick mehr; er dachte nicht mehr an sie, weil er beschlossen hatte, am n;chsten Tag nach Kasan zu fahren.
Er dachte nur an diese Reise, wie sie zu machen sei und was er mitnehmen sollte; wie er dort alles N;tige aufsuchen und erfahren und sich dann beruhigen werde.
Wenn du nicht hinf;hrst, sagte er sich, so kannst du noch verr;ckt werden!
Er f;rchtete es wirklich; er f;rchtete f;r seine Nerven. Er war ;berzeugt, da; aller Zauber sich wie dieser n;chtliche Alpdruck verfl;chtigen w;rde, sobald er alles mit seinen eigenen Augen s;he. Diese Reise wird ja h;chstens eine Woche in Anspruch nehmen, dachte er. Was ist eine Woche? Anders werde ich es aber nicht los.
Die aufgehende Sonne erhellte sein Zimmer; das Tageslicht vermochte aber nicht, die auf ihm lastenden Schatten der Nacht zu verscheuchen und seinen Entschlu; zu ;ndern.
Als Aratow Tante Platoscha seinen Entschlu; mitteilte, traf sie beinahe der Schlag. Ihre Knie knickten ein, und sie hockte sich hin. »Wie, nach Kasan? Wozu nach Kasan?« fl;sterte sie, ihn mit ihren halbblinden Augen anglotzend. Ihr Erstaunen w;re wohl kaum gr;;er, wenn sie h;ren w;rde, da; ihr Jascha die B;ckerin aus dem Nachbarhaus heiraten oder nach Amerika gehen wolle. »Willst du f;r lange nach Kasan?«
»Ich komme nach einer Woche zur;ck«, antwortete Aratow, sich halb nach der Tante umwendend, die noch immer auf dem Boden hockte.
Piatonida Iwanowna wollte noch etwas einwenden, aber da kam etwas ganz Unerwartetes, etwas, das ihr ganz ungewohnt war: Aratow schrie sie an: »Ich bin kein Kind mehr!« Er war totenbla; geworden, seine Lippen zitterten, und seine Augen brannten geh;ssig. »Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, ich wei;, was ich tue, ich darf alles tun, was mir beliebt. Ich werde niemand gestatten… Geben Sie mir Geld f;r die Reise, machen Sie mir den Koffer mit der W;sche und den Kleidern fertig – und qu;len Sie mich nicht! Nach einer Woche komme ich zur;ck, Platoscha«, f;gte er etwas milder hinzu.
Platoscha erhob sich seufzend und schlich langsam, ohne zu widersprechen, in ihr Zimmer. Jascha hatte ihr gro;e Angst gemacht. »Ich habe keinen Kopf mehr auf dem Nacken«, sagte sie zur K;chin, die ihr half, die Sachen einzupacken, »keinen Kopf, sondern einen Bienenkorb, und ich wei; gar nicht, was f;r Bienen darin summen. Nach Kasan will er fahren, meine Liebe, nach Ka-san!«
Die K;chin, die gestern bemerkt hatte, wie der Hausknecht sich lange mit einem Schutzmann unterhalten hatte, wollte es anfangs ihrer Herrin melden, entschlo; sich aber doch nicht dazu. Sie dachte sich nur: Nach Kasan? Da; die Reise nur nicht weiter geht!
Platonida Iwanowna war so fassungslos, da; sie es sogar unterlie;, ihr gewohntes Gebet zu sprechen. »Bei einem solchen Ungl;ck kann ja auch der liebe Gott nicht helfen!«
Aratow reiste am gleichen Tage nach Kasan.
XII
Kaum war er in diese Stadt gekommen und in einem Gasthaus abgestiegen, als er sich auch gleich auf die Suche nach dem Hause der Witwe Milowidow machte. W;hrend der ganzen Reise befand er sich in einer seltsamen Erstarrung, was ihn ;brigens nicht hinderte, alles richtig zu machen: in Nischnij-Nowgorod die Eisenbahn mit dem Dampfschiff zu vertauschen, auf den Stationen zu essen und so weiter. Er war noch immer ;berzeugt, da; dort sich alles l;sen w;rde; darum hielt er alle Erinnerungen und Betrachtungen von sich fern und begn;gte sich mit den Vorbereitungen zum »Speech«, in dem er den Angeh;rigen Klaras seine Beweggr;nde klarmachen w;rde.
Endlich war er am Ziel und lie; sich anmelden. Man lie; ihn ein, wenn auch mit einiger Best;rzung und Angst.
Das Haus der Witwe Milowidow war tats;chlich so, wie Kupfer es beschrieben hatte; auch die Witwe selbst erinnerte an eine der Kaufmannsfrauen Ostrowskijs, obwohl sie eine Beamtenwitwe war: Ihr Mann hatte den Rang eines Kollegien-Assessors gehabt. Aratow entschuldigte sich zun;chst wegen seiner Dreistigkeit und der Seltsamkeit seines Besuchs und hielt dann mit ziemlicher M;he den vorbereiteten »Speech«. Er sprach von seinem Wunsch, alles Wissenswertes ;ber die so jung verstorbene K;nstlerin zu sammeln, und sagte, da; er dabei nicht von m;;iger Neugierde, sondern von tiefer Sympathie f;r ihr Talent, dessen Verehrer (er